Tübingen · Arabisches Filmfestival

Schlechte Blicke wegtanzen

Die Filmemacherin Nada Ibrahim fragte Bewohner der ägyptischen Metropole Kairo nach dem Glück.

07.10.2019

Von Dorothee Hermann

Nada Ibrahim. Bild: Dorothee Hermann

Nada Ibrahim. Bild: Dorothee Hermann

In der Millionenstadt am Nil ist Glück vielleicht noch flüchtiger anderswo. „Jeder muss sich durchkämpfen“, sagte Festivalgast Nada Ibrahim dem TAGBLATT. Um herauszufinden, was das für Menschen in sehr unterschiedlichen Lebensumständen bedeutet, drehte sie ihren Dokumentarfilm „A City and The Lost Art of Happiness“ (Eine Stadt und die verlorene Kunst des Glücks), der außer beim Arabischen Filmfestival in Tübingen und Stuttgart auch beim Silicon Valley African Film Festival lief.

Glück sei ein verzwicktes Thema, vielfach als billige Wohlfühlformel in Shows und in Ratgebern breitgetreten und von der Werbung instrumentalisiert. In diese Richtung sollte ihr Film auf keinen Fall: Der 31-Jährigen ging es darum, Kairo und das Leben seiner Bewohner erkunden. Ibrahim ist auch studierte Architektin mit Schwerpunkt Urban Design (die gestalterischen Aspekte der Stadtplanung). Dazu gehört auch, Anwohner zu befragen – was sie auf die Idee für ihren Film brachte.

Der Ruderer auf dem Nil, der eingangs im Film davon spricht, wie hart das Leben für die Jugend Kairos sei, reflektiere bereits seine eigenen zerstörten Hoffnungen, sagte die Filmemacherin. Der Fluss spiegele an dieser Stelle die extremen sozialen Gegensätze der ägyptischen Hauptstadt: Die Allerärmsten fristen auf winzigen Inseln im Strom ihr Leben, während sich am Ufer, der Corniche, stinkreiche Kreise angesiedelt haben. Doch auch die Privilegierten mit Zugang zu Bildung, Jobs und medizinischer Versorgung seien weit davon entfernt, sich entspannt zurückzulehnen. Sie seien ständig damit beschäftigt, ihren Status zu behaupten: zu zeigen, dass sie sich etwas leisten können über die richtigen Kontakte verfügen und sich vor allem von vermeintlichen Hungerleidern abzugrenzen. „Sie machen Schulden und vermieten ihre Autos, um ihre Kinder in angesagten Privatschulen unterzubringen.“

Die Gesprächspartner für ihre Doku fand Ibrahim bei Zufallsbegegnungen auf der Straße und über Freunde von Freunden. Es gab auch Leute, die von ihrem Projekt hörten und sie weiterempfahlen. „Die meisten Interviews waren nicht geplant.“ Auch lief nicht jede Begegnung so ab, wie sie sich das vorab vorgestellt hatte. Ein früher drogenabhängiger Mann, der in einem Kairoer Café arbeitet und nebenher anderen beim Entzug hilft, sollte von seinen Erfahrungen dabei berichten. Stattdessen erzählte er vor der Kamera seine eigene Lebensgeschichte: Wie er immer härtere Drogen nahm, sein Studium abbrach, an Suizid dachte und schließlich verhaftet wurde, nachdem das Crystal-Meth-Labor, das er mit drei anderen betrieb, aufgeflogen war.

Die Filmemacherin verwendete nur etwa 40 Prozent des gedrehten Materials. Explizit politische Aussagen ließ sie weg, um die Interviewten und sich selbst nicht zu gefährden. Einmal schwärmt ein älterer Mann auf einem Wochenmarkt übertrieben von der Musik in der Armee. Er dachte, vor der Kamera müsse er sich so verhalten, sagte sie.

Ein älterer Armenier bringt sich mit dem Reparieren von Klavieren durch. „Ich bin Freiberufler“, sagt er im Film. „Einen Tag verdiene ich Geld, einen Tag nichts.“ Eine sichere Existenzgrundlage ist das nicht: Denn er versteht sich nur auf Tasteninstrumente älteren Typs, mit den neuen Modellen kennt er sich nicht aus, so die Regisseurin.

Dafür hat die in sich ruhende Gründerin eines Studios für Gesellschaftstänze mit den langen offenen Haaren mit ihrer Tanzschule für Gesellschaftstänze offenbar einen Nerv getroffen: Männer und Frauen entdecken bei ihr ungeahnte Freiräume. Eine Frau nach der Familienphase findet durch das Tanzen aus ihrer deprimierenden Isolation heraus. Eine junge Frau erobert sich ein positives Körpergefühl zurück, mit dem sie sich auch für den „schlechten Blick“ auf Frauen gewappnet fühlt, den sie aus dem Alltag ebenso kennt wie den „guten Blick“.

In der Riesenstadt Kairo leben vielfältigste Communities in einer einzigen zusammen. „Das ist ein Vorteil und ein Problem“, so Ibrahim. Denn die Kairoer hätten verlernt, einander zuzuhören. Deshalb lebten sie eher abgeschottet nebeneinander her. „Jeder macht die anderen für die eigenen Probleme verantwortlich.“

Info Der Dokumentarfilm „A City and The Lost Art of Happiness“ läuft heute Abend, 18.15 Uhr, im Kupferbau, Hörsaal 22. Englische Untertitel. Regisseurin anwesend.

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Erstellt:
07.10.2019, 18:19 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 07.10.2019, 18:19 Uhr

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