Regionalstadtbahn Neckar-Alb

Innenstadtstrecke: Schienen als heißes Eisen

Soll durch Tübingen eine Stadtbahn fahren? Dazu gibt es am Sonntag einen Bürgerentscheid. Das Thema spaltet die Stadtgesellschaft – eine Ablehnung gilt als wahrscheinlich. Warum ist das so?

25.09.2021

Von Gernot Stegert

So könnte die Stadtbahn im nächsten Jahrzehnt durch die Tübinger Mühlstraße fahren. Foto: Screenshot Video Stadt Tübingen

So könnte die Stadtbahn im nächsten Jahrzehnt durch die Tübinger Mühlstraße fahren. Foto: Screenshot Video Stadt Tübingen

Was könnte man an dieser Vision aussetzen? Menschen aus dem Westen, Osten und Süden, aus Rottenburg und Ammerbuch, aus Reutlingen und dem Steinlachtal fahren mit der Regionalstadtbahn Neckar-Alb zur Tübinger Altstadt, zur Universität im Tal und auf den Berg, zu den Kliniken, zum Technologiepark mit Unternehmen wie Amazon, Bosch und Curevac, zu den Max-Planck-Instituten oder bis zum großen Stadtteil Waldhäuser Ost. Sie müssen nicht am Hauptbahnhof umsteigen in einen Bus, sondern können sitzenbleiben. Und deshalb lassen sie ihr Auto stehen. Das ist die Vision der Befürworter der Regionalstadtbahn mit Tübinger Innenstadtstrecke. Ob sie Wirklichkeit wird, entscheiden fast 70.000 stimmberechtigte Tübinger am Sonntag bei einem Bürgerentscheid.

Doch die Stimmung ist kritisch. Viele Befürworter, auch Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), gehen von einem Nein aus. In einer Umfrage des „Schwäbischen Tagblatts“ von Mitte September waren 70 Prozent der befragten Tübinger gegen das Projekt. Die Bewohner der meisten Gemeinden im Umland sprachen sich hingegen mehrheitlich für die Innenstadtstrecke aus.

Großer politischer Rückhalt

Das Gesamtprojekt Regionalstadtbahn ist unstrittig, auch in Tübingen. Heftig diskutiert wird jedoch die 283 Millionen Euro teure Innenstadtstrecke. Auf 7,1 Kilometern soll alle 7,5 Minuten eine Straßenbahn durchs Zentrum fahren – über die Neckarbrücke und durch das Nadelöhr Mühlstraße zwischen Schloss- und Österberg. Die Tübinger Topografie lässt keine Alternativen zu – oder nur solche, die sehr viel länger und damit teurer wären und die zentralen Ziele nicht erreichen würden. Sie wurden früh ausgeschlossen.

Der politische Rückhalt für die Stadtbahn ist groß. Die Mitglieder von fünf der sieben Gemeinderatsfraktionen wollen dafür stimmen, Kreistag und Regionalverband unterstützen das Teilprojekt. Palmer trommelte am Donnerstag 20 Bürgermeister aus dem Landkreis auf dem Marktplatz zusammen, um deren Unterstützung zu demonstrieren. Drei Bürgerinitiativen setzen sich für die Innenstadtstrecke ein. Tübingen hat 50.000 Einpendler täglich, von denen viele im Autostau stehen.

Doch die Stimmung ist dagegen. Die Gründe sind vielfältig. Der Schwäbische Heimatbund sieht die idyllische Unistadt in Gefahr. Die Bürgerinitiative „Nein zur Innenstadtstrecke“, hinter der sich Gegner von der Ratsfraktion der „Tübinger Liste“ bis zu Prominenten wie Dieter Baumann versammeln, setzt auf Alternativen wie ein ausgebautes Schnellbussystem. Ihr Argument: Busse könnten sofort fahren und nicht erst nach 2030 wie die Stadtbahn. Sie wären mit Elektroantrieb oder Wasserstoff früher klimaneutral. Zudem seien Busse offen für neue Entwicklungen in der Mobilität. Kehrseite: Ein Bus hat nur ein Viertel der Kapazität einer Stadtbahn.

Der Bürgerentscheid spaltet die Stadtgesellschaft. Zumindest die in Leserbriefen und auf Facebook veröffentlichten Meinungen zeigen eine starke Polarisierung. Mittendrin tummelt sich wie so oft der Oberbürgermeister. Palmer wirbelt wie kein anderer, wirbt massiv für das Projekt – und macht den Entscheid damit auch zu seiner persönlichen Sache. Fast täglich setzt er Termine für die Presse oder Bürger an. Mit Transparenten stellt er sich auf die Neckarbrücke. Auf Facebook nimmt er Leserbriefe der Gegenseite ungefragt auseinander, unterwirft sie einem „Fakten-Check“. Auch attackiert er Andersdenkende persönlich. Dem Fraktionsvorsitzenden der „Tübinger Liste“, Ernst Gumrich, unterstellte er gar, dieser habe einen Leserbrief gefälscht.

In seiner Verzweiflung schlug Palmer im „Tagblatt“-Interview vor, eine Tunnelvariante zu prüfen – was er zuvor stets zurückgewiesen hatte. Den Bürgerentscheid verknüpfte er sogar mit seiner Zukunft im Amt – wenn auch mit Hintertürchen. Er werde „in die Stadtgesellschaft hinein horchen“. Die Stadtbahn sei ein Beitrag zum Klimaschutz und dieser sein großes Ziel. „Wenn die Stadtgesellschaft das gar nicht will, muss ich aufhören.“ Diese Verbindung hatte seine Partei vermeiden wollen, weil sie im Sachentscheid eine Denkzettelwahl gegen den umstrittenen Parteifreund fürchtete.

Die Regionalstadtbahn Neckar-Alb

Bei der Regionalstadtbahn Neckar-Alb geht es um 137 Kilometer Elektrifizierung bestehender Schienenstrecken, 45 Kilometer Bau neuer Gleise, um 65 neue Haltestellen und um moderne Zweisystemfahrzeuge. Das Netz reicht von Herrenberg über Tübingen und Reutlingen nach Bad Urach, von Horb über Rottenburg nach Tübingen, von Albstadt über Balingen und Hechingen und von Burladingen durchs Steinlachtal nach Tübingen sowie Innenstadtstrecken in Tübingen und Reutlingen. Der Zweckverband beziffert die Kosten auf 2,1 Milliarden Euro. 120.000 Fahrgäste täglich werden erwartet.

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Erstellt:
25.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 25.09.2021, 06:00 Uhr

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