Kusterdingen · Brauchtum

Schellend den Tag beginnen: Schon um 5 Uhr geht es los

Am frühen Morgen des Heiligabend zieht heuer in Kusterdingen wieder der Albverein mit Glocken durch den Ort.

22.12.2022

Von Frank Rumpel

Erstmals seit sechs Jahren gibt es in Kusterdingen wieder einen Glockenzug. Archivbild: Gerhard Groebe

Erstmals seit sechs Jahren gibt es in Kusterdingen wieder einen Glockenzug. Archivbild: Gerhard Groebe

„Ich finde das einen schönen Brauch“, sagt Iris Lumpp, Vorsitzende der Kusterdinger Ortsgruppe des Schwäbischen Albvereins. Sie erinnert sich noch gut an ihre Kindertage, als der Glockenzug ab 5 Uhr morgens laut schellend durch den Ort zog. „Wenn die am Haus vorbei sind, wusste man: Jetzt ist Heilig Abend.“ Einige Jahrzehnte hatte der Liederkranz den Zug organisiert. Jahrelang ging Lumpp auch mit ihren eigenen Kindern dort mit. Doch mit der Zeit wurden es immer weniger Leute, so dass die Sängerinnen und Sänger 2016 zum letzten Mal schellend loszogen. Im Jahr darauf blieb es ruhig am frühen 24. Dezember, bis 2018 der Albverein übernahm. „Viele von uns haben gesagt, das ist doch schade, wenn sowas einschläft. Dann machen wir das doch weiter“, sagt Lumpp.

Gleich das erste Jahr war eine echte Herausforderung. Bei Dauernieselregen läutete eine 52-köpfige Gruppe vom Wasserturm aus eine Stunde lang durch den Ort ziehend den Heilig Abend ein. Das Wetter schreckte offenbar niemanden. Im Jahr darauf kamen sogar 53 mit ihren Glocken zum Zug – unter einem sternklaren Himmel, der Abschluss Punkt 6 Uhr in einer örtlichen Bäckerei. Und dann bremste die Pandemie den Zug zwei Jahre lang aus. Am kommenden Samstag aber wird es wieder laut.

Inspirieren ließen sich die Gründer des Glockenzugs im ausgehenden 19. Jahrhundert von Raunachtritualen, wie sie etwa in einigen Alpendörfern zu finden sind. Vielerorts gibt es an den zwölf Tagen zwischen Heiligabend und Dreikönig (auch „Zwölften“ genannt) Lärm- und Maskenumzüge, mit denen die just an diesen Tagen umherstreunenden Totengeister vertrieben werden sollen. Gerne beruft man sich dabei auf alte germanische Bräuche.

In Kusterdingen wurde das Ritual in den 1950er-Jahren anscheinend wegen seines heidnischen Ursprungs zunächst abgeschafft, bevor es in den 1970ern wiederbelebt wurde – wobei das nicht so ganz stimmt, sagt der 80-jährige Horst Breitmaier, der Vater von Iris Lumpp. Auch in den 1950ern seien viele Jungs morgens so bald wie möglich zum „Glocken“ losgezogen, allerdings nicht organisiert. Vielmehr hätten sich da jeweils zwei oder drei Leute verabredet, die dann laut schellend durch die Gassen stromerten. Und wie wurde man rechtzeitig wach? „Da hat man sich ein Schnürle an den großen Zeh gebunden und das aus dem Fenster gehängt“, erzählt Breitmaier. Der Kumpel zog daran und dann ging es los. Die anderen Gruppen traf man unterwegs.

Iris Lumpp hat eine Messingglocke, die sie an einem Lederband umhängen kann und auch eine Allgäuer Kuhglocke ist noch in ihrem Fundus. Damit könne man schon ordentlich Radau machen, sagt sie. Wobei für den Zug freilich die Mischung aus Glocken und Glöckchen in allen Größen und Formen entscheidend ist. „Das unterstreicht auch das Festliche des Tages“, sagt Lumpp.

Wer nun am Samstagmorgen mitgehen möchte, braucht nur eine Glocke und einen Wecker. Treffpunkt ist um 5 Uhr nicht mehr vor dem Wasserturm, sondern vor dem Rathaus. „Das ist zentraler“, sagt Lumpp. Und auch die Runde wird etwas kürzer sein, als in den vergangenen Jahren. Zum Abschluss gibt es dann wieder eine Tasse Kaffee – wobei der Zug am Ende meist deutlich ausgedünnt ist. Da gingen, sagt Lumpp, unterwegs schon immer einige verloren.

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Erstellt:
22.12.2022, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 41sec
zuletzt aktualisiert: 22.12.2022, 01:00 Uhr

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