Palmers Corona-Äußerung

Sachlicher Beitrag oder zynischer Spruch?

Oberbürgermeister Boris Palmer löst mit einem Satz über das Sterben der Älteren bundesweit Entsetzen und Kritik aus. Die eigene Partei geht auf Distanz.

29.04.2020

Von Gernot Stegert

Boris Palmer. Bild: Anne Faden

Boris Palmer. Bild: Anne Faden

Erneut hat Boris Palmer einen bundesweiten Sturm der Entrüstung ausgelöst. Seit Wochen diskutiert der Tübinger Oberbürgermeister vor allem auf Facebook und in Talkshows über Auswege aus der Coronakrise mit. Schon mehrfach wurden seine Äußerungen über Ältere als Diskriminierung empfunden, wie auch zahlreiche Leserbriefe im TAGBLATT zeigten. Nun hat ein Satz im Sat1-Frühstücksfernsehen Anstoß erregt. Palmer sagte dort: „Ich sage es Ihnen jetzt mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen.“

Der Satz wurde sofort bundesweit in unterschiedlichsten Medien online zitiert – oft mit Entsetzen. Palmer reagierte rasch auf Facebook und schrieb: „Jetzt kocht mal wieder die Volksseele. Anlass sind Agenturmeldungen zu meinem heutigen Auftritt im Frühstücksfernsehen von Sat1.“ Er verlinkte aufs Video. Zusammenhang war die Frage des Moderators: „Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat gesagt: ,Nicht alles ist dem Schutz von Leben unterzuordnen.‘ Wie deuten Sie diese Aussage?“ Der Tübinger OB antwortete: „Ich glaube, dass es ihm darum geht, dass wir tatsächlich alle irgendwann sterben und auch das Grundgesetz das nicht verhindern kann. Und wenn Sie die Todeszahlen anschauen durch Corona, dann ist es so, dass insbesondere Menschen über 80 sterben. (…) Also ist Corona jetzt nicht eine Krankheit wie Ebola, die 20-Jährige mitten aus dem Leben reißt, sondern tödlich ist Corona fast ausschließlich für hochaltrige Menschen.“ Dann folgt der Anstoß erregende Satz, dem sich Folgendes anschließt: „Aber die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der Uno dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet. Da sieht man: Es ist ein Medikament mit Nebenwirkungen, wir müssen es richtig dosieren.“

Palmer: „Das ist nur Empirie“

Palmer erklärt dazu auf Facebook: „Was der Absatz beschreibt, ist nur eine Tatsache. Der Shutdown, wie wir ihn betreiben, versucht, das Leben hochaltriger, schwer kranker Menschen in den reichen Ländern zu verlängern, und kostet eine viel größere Zahl von Kindern in armen Ländern das Leben. Das ist ein furchtbarer Zielkonflikt. Mit keinem Wort werte ich das Leben der älteren Menschen ab, so wie ich meinen Kritikern ja auch nicht unterstelle, dass ihnen das Leben der Kinder in armen Ländern nichts wert ist.“

Weiter schreibt Palmer: „Mit Euthanasie und all den Nazivergleichen hat das nichts zu tun. Ich weigere mich nur, Tatsachen und reale Zielkonflikte zu ignorieren. Und ich habe mit fünf Autoren im Spiegel diese Woche aufgezeigt, wie wir den Shutdown schneller aufheben können, wenn wir alle Maßnahmen am Risiko schwerer Erkrankungen ausrichten.“ Es müsse unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Junge und Ältere geben: eine Lockerung
für die einen, mehr Schutz für die anderen.

Auf TAGBLATT-Nachfrage will Palmer nur Fakten beschrieben haben. Er teilte mit: „Der inkriminierte und mal wieder von den Portalen gierig aufgegriffene Satz (mit Kontext gäbe es die ganze Aufregung mit Sicherheit nicht) beschreibt lediglich, was wir heute über Corona wissen. Solange das Gesundheitssystem nicht überlastet wird, hat es keine messbaren Wirkungen auf die Zahl der Toten und das Todesalter im Schnitt (das ist bis heute der Stand in Deutschland). Auch aus den Obduktionen wissen wir, dass fast nur Menschen an Corona sterben, die nur noch kurze Zeit zu leben haben. Das ist einfach nur Empirie.“

Aber ist der Zusammenhang der Debatte nicht einer, der über das Ist hinaus nach dem Was-sollen-wir-tun fragt? Palmer antwortet: „Normativ folgt daraus, dass wir den Schutz der alten und kranken Menschen bei uns so gestalten müssen, dass die ungewollten Nebenwirkungen kleiner werden. Und da sind wir wieder beim
Spiegel-Text.“

Aber warum dann der Hinweis auf die Älteren, die ohnehin sterben? Würde Palmer alles tun, um das Leben eines 80-Jährigen auch nur um zwei Monate nicht zu verkürzen? Er antwortet: „Wenn wir nach Risiko differenzieren, stellt sich die Frage nicht mehr. In einer Triage würde ich wie der Ethikrat das Leben von einer Million gesunder Kinder eher retten als das von zehntausend schwer kranken alten Menschen.“

Im Laufe des Tages meldeten sich zahlreiche Kritiker. Er schüre Ängste von Millionen alter Menschen und betreibe billige Hetze, sagte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. „Damit betätigt sich Palmer als Brandstifter, obwohl er kraft seines Amts Feuerwehrmann sein muss.“ Aus der eigenen Partei war die Reaktion nicht milder. Die Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock distanzierte sich klar: „Unsere Gesellschaft zeichnet aus, dass alle ein gleiches Recht auf medizinische Betreuung haben. Unsere Verfassung ist da mehr als klar.“ Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn bezeichnete Palmers Position als „sozialdarwinistisch“.

Die baden-württembergischen Grünen-Vorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand distanzierten sich von Palmer: „Mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen beteiligt er sich an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte – das ist mit unseren politischen Werten und unserem Verständnis von politischer Verantwortung nicht vereinbar.“

Rosemann: „schäbig“

Der Generalsekretär der CDU Baden-Württembergs, Manuel Hagel, erklärte, Palmers Aussagen strotzten vor Verachtung für die Älteren. Der baden-württembergische FDP-Vorsitzende Michael Theurer reagierte empört: „Er ist nicht nur wie sonst manchmal über das Ziel hinausgeschossen, sondern erheblich entgleist.“ Der Tübinger SPD-Bundestagsabgeordnete Martin Rosemann meinte: „Palmers Äußerungen sind völlig verantwortungslos. Es ist menschenverachtend, den Wert des Lebens eines Menschen gegen den eines anderen auszuspielen. Auch die Alten gegen die Jungen auszuspielen, ist schäbig. Es wird auch den Fakten überhaupt nicht gerecht.“ Auch Jüngere könnten unter schweren bis lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen leiden. Und: „60 Jahre und älter ist rund ein Drittel der Bevölkerung.“ Auch die Tübinger Jusos kritisierten den OB scharf. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat Martin Sökler schrieb: „Kluge Politik muss immer getragen sein von Respekt vor dem menschlichen Leben. Das ist bei Palmers Äußerungen erkennbar nicht der Fall. Eine Entschuldigung bei allen Älteren ist notwendig.“

Grüne: „menschenverachtend“

Der Tübinger Grünen-Bundestagsabgeordnete Chris Kühn sagte dem TAGBLATT: „Das ist ein empathieloser Satz. Die Empörung besteht zu recht.“ Es sei auch ein falscher Satz. Denn es könnten nicht nur ältere Menschen oder solche mit Vorerkrankungen betroffen sein. Er selbst sei erkrankt gewesen. Der Grünen-Abgeordnete sagte zu Palmers Äußerung: „Mit solchen Sätzen wird man unglaubwürdig.“ Kühn ist enttäuscht von seinem Partei-Kollegen: „Ein Amtsträger muss zusammenführen, nicht spalten.“ Er müsse auch verantwortlich mit Worten umgehen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sei da Vorbild. Auch sei Palmer kein Experte: „Das Robert-Koch-Institut ist in Berlin und nicht in Tübingen.“ Der Kreisverband der Grünen erklärte: „Wir distanzieren uns von den Äußerungen von Oberbürgermeister Boris Palmer im Sat1-Frühstücksfernsehen. Die Aussage ,Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr so-wieso tot wären‘ ist nicht akzeptabel und menschenverachtend.“

Der Grünen-Stadtverband Tübingen hat sich deutlich von Palmer distanziert. „Wer die Debatte öffnet, ob es lebensunwertes Leben gibt, öffnet die Büchse der Pandora“, sagte Marc Mausch vom Grünen Stadtvorstand, „Nicht Schutzhaft für Alte ist der grüne Weg, Verantwortung ist es.“ Der Grüne Stadtvorstand Lars Maximilian Schweizer ergänzte: „Die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren und sind richtig. Der Schutz von Menschenleben muss immer an erster Stelle stehen. Das ist ein Grundwert unserer Partei.“ Die besonnene Vorgehensweise des Grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann habe in Baden-Württemberg erst zur Beherrschbarkeit der Corona-Pandemie geführt. „Boris Palmer spricht mit seinen Aussagen nicht für die Grünen in Tübingen.“ Nötig sei „in dieser schweren Zeit mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt und keine weitere Polarisierung“. Als Privatperson ergänzte Mausch „Palmers zynischen Spruch“ so: „Wir retten Menschen, die in hundert Jahren sowieso tot wären.“

Am frühen Abend sagte Palmer der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, er habe nur „Fakten der Vereinten Nationen und einen Zielkonflikt“ beschrieben. „Ich weiß nicht, wie ich mich für Fakten entschuldigen könnte.“ Wenig später erklärte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur: „Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen.“ Falls er sich „da missverständlich oder forsch ausgedrückt“ habe, tue es ihm leid.

Das Video gibt es bei Sat1