Coronavirus

SWP-Leitartikel: Ungewolltes Jubiläum

Seit fast genau einem Jahr plagt sich Deutschland mit dem Coronavirus. Dass wir damit nur Teil eines die Welt erfassenden Pandemiegeschehens sind, stimmt alles andere als tröstlich.

23.01.2021

Von ANDRé BOCHOW

Berlin. Schon öfter sahen wir das berühmte Licht am Ende des Tunnels, aber dann war es irgendwie wieder verschwunden. Wissenschaftler und Politiker haben in diesem Jahr gewarnt, Beschwörungen vorgetragen und gelegentlich gedroht. Wie sehr besorgte Eltern, denen es im Grunde an Sanktionsmöglichkeiten fehlt. Sehr viel Geld wurde ausgegeben, unsere Geduld ist über die Maßen strapaziert – aber es ist noch nicht vorbei, hören wir. Noch lange nicht. Wir fragen uns jetzt manchmal, wie eigentlich ein Ende aussehen würde und ob unser Leben nach Corona ist, wie es vorher war.

In diesem Pandemie-Jahr haben wir sehr viel gelernt und wissen doch nur wenig. Mehr als 50?000 Menschen hat die von dem Virus ausgelöste Krankheit dahingerafft. Doch schon da fangen die Ungewissheiten an. Mit oder an Covid-19 sind überwiegend recht alte Menschen gestorben. „Mit oder an“ ist nicht sonderlich präzise, auch wenn mittlerweile klar ist, dass die meisten Toten tatsächlich auf das Konto von Corona gehen. Bekannt ist auch, welche Rolle Aerosole und die Verbreitung in geschlossenen Räumen spielen. Wir können sehen, wie die Infiziertenzahlen im Winter steigen. Auch wegen der sinkenden Temperaturen. Und warum gibt es dann in Brasilien so viele Ansteckungen? Es gibt so viele Fragen.

Wir wissen nach wie vor nicht, woher das Virus kommt, warum sich manche mit ihm anstecken und andere nicht, weshalb die einen milde oder gar keine Verläufe haben und die anderen todkrank werden, wie groß das Risiko ist, sich mehrfach anzustecken, ob man nach dem Impfen infektiös bleibt, wie lange Impfungen wirken und wie gefährlich Mutationen wirklich sind. Aber noch viel besorgniserregender ist die gesellschaftliche Verunsicherung.

Es ist nicht sicher, dass wir das alles noch lange aushalten – die Einschränkungen unserer Grundrechte und die kleinen Hässlichkeiten des Alltags. Umgekehrt ist es erschreckend, wie schnell wir uns an die Beschneidung der Freiheit gewöhnt haben. Mit Verzögerung, aber nun doch, wird diskutiert, wie lange der Schutz von Leben Priorität haben soll, wenn das Leben so beschränkt wird, dass es zunehmend weniger lebenswert ist. Nach einem Jahr der Lock- und Shutdowns, des Homeoffices und des Homeschoolings schwindet die Bereitschaft zur Solidarität. Und wohl in jeder Familie hat es in diesem Jahr Verstörungen gegeben, weil irgendwer aus der Verwandtschaft die Widersprüche der Pandemiebekämpfung nicht mehr aushielt und anfing, sie mit wirren oder irren, in jedem Fall irrationalen Argumenten zu begleiten.

Auf der Habenseite finden wir die Neubewertung von scheinbar Selbstverständlichem. Familie, Freunde, Schulbildung, die Demokratie oder einfach das „normale“ Leben erscheinen in einem neuen Licht. Wir wissen vielleicht immer noch nicht so viel über das Virus, aber wir wissen sehr viel mehr über uns.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
23.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 24sec
zuletzt aktualisiert: 23.01.2021, 06:00 Uhr

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