Der Türkische Kulturverein bemüht sich seit 50 Jahren um Integration

Reutlinger Schmelztiegel (1): Aus Gästen wurden Freunde

Während die Arbeitsmigranten der ersten Generation nach getaner Arbeit wieder zurückreisten, ist Reutlingen für hier aufgewachsene Türken mittlerweile die neue Heimat geworden. Wie die Gesellschaft, hat sich auch der Türkische Kultur- und Integrationsverein (TKIV) in mehr als 50 Jahren stark gewandelt.

04.09.2016

Von Maik Wilke

Integration mit Würfeln und Becher: Seit 2011 mutschelt der Türkische Kultur- und Integrationsverein gemeinsam mit dem christlich-muslimischen Freundeskreis. Archivbild: Haas

Integration mit Würfeln und Becher: Seit 2011 mutschelt der Türkische Kultur- und Integrationsverein gemeinsam mit dem christlich-muslimischen Freundeskreis. Archivbild: Haas

Reutlingen. Mehr als 5000 türkisch-stämmige Menschen leben in Reutlingen. Klar, dass diese große Gemeinde einen starken und einen der ältesten Kulturvereine im Rücken hat. 1964 gründeten Arbeitsmigranten aus der Türkei in Reutlingen eine Vereinigung, in der sie sich gegenseitig im neuen Land unterstützten, erklärt Adil Kirmizibayrak aus dem Vorstand des TKIV. „Einer hat allen die Haare geschnitten, ein anderer die Kleider von allen gebügelt. Die Männer mussten sich fernab ihrer Frauen eben selbst helfen.“ Am Wochenende wurde gemeinsam gekocht und in der „Gastarbeiterliga“ Fußball gespielt.

Heutzutage kommt keine der 200 Frauen und Männer in den türkischen Kulturverein, weil sie oder er zu einem Friseur möchte, der ihn versteht. Diese Zeiten sind vorbei, weiß Kirmizibayrak, der vor mehr als 40 Jahren aus Istanbul für sein Textilstudium nach Reutlingen zog: „Die Bedürfnisse der Gesellschaft haben sich geändert und der Verein hat sich diesem Wandel angepasst.“ Vor über zehn Jahren musste daher auch der Name „Türkischer Arbeiterverein“ weichen.

Im Haus der Jugend in der Museumstraße lebt der TKIV Tür an Tür mit der Kulturwerkstatt, dem Stadtjugendring und KuRT. Im Aufenthaltsraum im Erdgeschoss, der „Pinnwand“, steht ein Billardtisch, Sofas und bequeme Sessel, die Küche ist sauber und gut ausgestattet. Natürlich sollen die Treffen gesellig sein, aber auch lehrreich: Regelmäßig lädt der Verein Experten ein, die über unterschiedliche Themen wie Gesundheit und Erziehung referieren. Stephan Hochgreve, Rektor der Eduard-Spranger-Schule, erklärte den Mitgliedern das deutsche Schulsystem, Stadtrat Ramazan Selcuk, selbst Mitglied beim TKIV, sprach vor der Landtagswahl, wie richtig panaschiert und kumuliert wird.

Der Verein reiste nach Istanbul, besuchte das Umweltbildungszentrum Listhof, hilft bei der Organisation von „Die Stadt spielt“. Und: Jedes Jahr wird gemeinsam gemutschelt. „Wir wollen keine Parallelgesellschaft in Reutlingen, sondern versuchen alle Kulturen zusammen zu bringen“, sagt Kirmizibayrak. Beim offenen Brunch, jeden Monat an einem Sonntag, sind explizit Mitglieder anderer Kulturvereine eingeladen. „Damit man sich wirklich kennenlernt, muss man Begegnungsmöglichkeiten schaffen“, betont Selcuk. „Das gelingt uns mit dem internationalen Brunch sehr gut.“

Während die erste Generation nach der saisonalen Arbeit „in der Ferne“ wieder in die Türkei zurückgekehrt ist, fühlten sich viele Türken, die in Reutlingen aufwachsen, sehr gut integriert, sagt Selcuk: „Wir sind auf einem guten Weg, das erkennt man an Schulen und auf der Arbeit. Auf beiden Seiten hat sich ein gutes Verständnis füreinander entwickelt.“ Dennoch ist das Verhältnis noch keineswegs vorurteilsfrei, schränkt Kirmizibayrak ein: „Das merken Sie, wenn Sie sich bei der Wohnungssuche mit einem deutschen Namen melden, oder danach mit einem türkischen mit vielen Ü’s. Da wird’s deutlich schwieriger.“

Dabei sei die Mentalität gar nicht so verschieden. Zumal Kinder aus der dritten und vierten Generation beide Kulturen von Geburt an in sich tragen würden. Viele türkische Mitglieder des TKIV sind mit einem deutschen Ehepartner verheiratet. Natürlich seien Türken etwas lockerer und ein wenig emotionaler, die deutschen dafür besser organisiert und verlässlicher, sagt Selcuk, der selbst übrigens nur die deutsche Staatsbürgerschaft hat: „Wenn wir uns von beiden Kulturen das Positive aneignen können, haben wir viel geschafft.“ Dass dies durchaus gelingen kann, merken sowohl Selcuk als auch Kirmizibayrak im Umgang mit deutschen Freunden: „Im Freundeskreis färben die deutsche und die türkische Kultur aufeinander ab.“

Das Dilemma um Präsident Erdogan

Die aktuelle Situation in der Türkei um Präsident Recep Tayyip Erdogan geht Ramazan Selcuk und Adil Kirmizibayrak vom Türkischen Kultur- und Integrationsverein sichtlich nahe. „Ich habe in der Nacht des Putschversuches nicht gut geschlafen“, sagt Selcuk. Klar seien viele Entscheidungen von Erdogan unverständlich, vor allem die Einschränkung der Presse- und Medienfreiheit. Dennoch ist der SPD-Stadtrat froh, dass der Putsch nicht erfolgreich war: „Sonst wäre das Land so zerstritten – das hätte zu einem Bürgerkrieg führen können.“ Ähnlich geht es Kirmizibayrak, der sich in einem Dilemma befindet: Er sei definitiv kein Freund von Erdogan, aber wenn man für eine rechtsstaatliche Struktur wäre, müsse man Erdogan derzeit eben unterstützen. Außerdem: „Viele deutsche Politiker sind gerade von ihrem Hass auf Erdogan geblendet. Dass sie nun die eigentlich versicherte Visafreiheit wieder zurücknehmen, bestraft nicht den Präsidenten, sondern die Bevölkerung.“

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Erstellt:
04.09.2016, 22:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 08sec
zuletzt aktualisiert: 04.09.2016, 22:00 Uhr

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