7. Kulturnacht

Reutlingen im Genuss-Stress

Tausende von Menschen strömen in die Stadt, um sich an 52 verschiedenen Orten unterhalten zu lassen.

23.09.2019

Von Matthias Reichert und Thomas de Marco

Wenn die Stadthalle zum Tanzpalast wird und in der ehemaligen Paketpost Rockmusik den Beton vibrieren lässt, wenn im Amtsgericht ehrliche Totschläger Asyl finden und das Achalmbad zum Karibik-Erlebnis wird, dann ist in Reutlingen Kulturnacht angesagt. Auch bei der 7. Auflage am Samstag haben 52 Veranstaltungsorte tausende von Menschen in die Innenstadt gezogen – zu einem Spektakel aus viel Musik, Theater, Wort und Lichtinstallationen.

Dabei führt das große Angebot durchaus zum Genuss-Stress: Wo gehe ich hin, wann steigt welche Attraktion, wie bringe ich es auf die Reihe, für die Locations die richtige Route zu finden? Denn neben der Lichtkunst machen auch die unterschiedlichsten Räume von Schulmensa bis Stadthalle den Reiz dieses alle zwei Jahre pulsierenden Events aus. Wobei die wohl letzte Sommernacht des Jahres die Außen-Veranstaltungen zum großen Gewinner werden lässt.

In der Stadthalle geht’s hoch her

Der Marktplatz füllt sich schon am frühen Abend mit Schaulustigen. Die TPZ-Theaterpädagogen tanzen mit Masken zu Walzerklängen, auch ein Rollifahrer ruckelt im Takt. Eine saubere Truppe: Einer geht mit Gießkanne umher, einer schrubbt die Mittanzenden mit der Bürste ab, ein anderer fegt den Platz. Als kurz der Lautsprecher versagt, tanzen sie ungerührt weiter. Die Stadt füllt sich, Flaneure geben einander Tipps: „In der Stadthalle gibt es später Tango. Das lieben meine Freundin und ich“, erzählt ein junger Mann. Aus vielen Geschäften klingt Musik, manche Bands spielen auch auf der Straße. Die Imbiss-Stände auf dem Marktplatz sind gut frequentiert.

Attraktiver Neuzugang im Reigen der Kulturnacht-Standorte: die ehemalige Paketpost. Weitere Bilder auf www.tagblatt.de.Bilder: Horst Haas

Attraktiver Neuzugang im Reigen der Kulturnacht-Standorte: die ehemalige Paketpost. Weitere Bilder auf www.tagblatt.de.Bilder: Horst Haas

Jugendliche festen vor dem Tübinger Tor, wo durchgängig volles Programm ist: DJs, ein Fitnessstudio, Tanztheater. Die Stadthalle ist heute Tanzhalle für die gesamte regionale Szene. Unter anderem schwingen sich vier junge „Himmelstänzerinnen“ an gelben Bändern hoch in die Lüfte. Zu ihren akrobatischen Bewegungen erklingt dezente Klaviermusik. Hunderte Zuschauer schauen gebannt zu. Staunende Stille. Nur der Barkeeper hat keine Pause: „Ein Euro Pfand bitte“.

Vor der Halle ist der Platz erleuchtet, hunderte meist Jugendliche schauen sich die Vorführungen von Tanzstudios und Gruppen an. Die bunt erleuchtete Stadthalle bietet die passende Kulisse zu diesem Zusatzprogramm, bei der auch die Disco-Vergangenheit mit „Saturday Nightfever“ und anderen Musicals noch einmal auflebt.

Pomologie als magischer Ort

Ruhig geht es im Amtsgericht zu wo so viel Publikum sitzt wie sonst nie bei Prozessen. Die Leute lassen sich erfundene und echte Kapitalverbrechen bei der Kriminacht vorlesen. Im Naturkundemuseum erklingen zwischen ausgestopften Tieren Panflötentöne und Jazz-Klassiker. Auch das Achalmbad ist alle zwei Jahre Stammgast im Reigen der außergewöhnlichen Kulturorte: Für die erfolgreichen Synchronschwimmerinnen der SSG Reutlingen/Tübingen ist es eine Freude, sich vor so viel Publikum mit einer Karibik-Show zu präsentieren. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist es ein schweißtreibender Genuss. Denn in der Schwimmhalle ist es heiß.

Alles in der Schwebe: Himmelstänzerinnen in der Stadthalle.

Alles in der Schwebe: Himmelstänzerinnen in der Stadthalle.

Jetzt ist es draußen richtig dunkel, die Illuminationen in der Pomologie kommen voll zur Geltung. Leuchtende Tore und Pylone säumen die Wege im Park, drei Musiker lassen afrikanische Trommelrhythmen ertönen, im Heckenweg und im Rosengarten nebenan sind Leuchtinstallationen zu entdecken. Dieser Park ist als Standort für die 7. Kulturnacht wiederbelebt worden – und seine Magie kommt bei denen, die dem Trubel der Stadt entfliehen wollen, bestens an.

Ein paar Meter weiter spielen „Horse Mountain“ vor wenig Publikum in der Mensa des Kepler-Gymnasiums Songs von Johnny Cash. Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto schwächer ist die Publikumsresonanz. Überall geht es sehr entspannt zu. Im franz.K besingt der Musiker Bernhard Haage vor 40 Leuten zur Gitarre einen Wintertag auf der Schwäbischen Alb: „Du bist nicht allein und freust dich deshalb.“

Aftershow-Party fast bis 5 Uhr

In der Stadtbibliothek zeigen junge Talente, was sie draufhaben. 50 Leute lassen sich bei einer Taschenlampenführung die Steindenkmäler im Garten des Heimatmuseums erläutern. Die Künstlerinnenvereinigung Gedok macht die gotische Kapelle im Halbstundentakt zum Gesamtkunstwerk. Rege frequentiert sind auch diverse Kunst-Vernissagen. Etwa im Rathaus-Foyer, wo die Initiative „Kunst an jedem Ort“ zu Jazzklängen live malen lässt. Zwei Künstlerinnen gestalten mit Schwung abstrakte Gemälde, die Musik spielt dazu. Applaus für ein Saxofon-Solo – schon sind die Bilder vollendet.

Brechend voll ist es in der Kreissparkasse, wo das Harlekin-Theater mit Harry Kienzler Theatersport macht. Das Schauspieler-Quartett improvisiert vor 400 Zuschauern auf Zuruf und findet Reime auf die schwierigsten Wörter, sogar auf „Nahverkehrskonzept“. Leitthema sind Filme. Die Akteure erfinden aus dem Stegreif einen Western, der auf Zuschauerwunsch „unter dem Regenbogen“ spielen soll. „Nichts ist vorbereitet, nichts ist vorher abgesprochen“, versichert Kienzler. Die Halle tobt.

Hoch her geht es auch in der ehemaligen Paketpost: Zeitweise lassen sich dort 400 Menschen mit Rockmusik volldröhnen. Im zweiten Stock stellen Künstlerinnen und Künstler in den früheren Büroräumen aus und erklären ihre Werke. Bis kurz vor 5 Uhr nachts tobt hier die Aftershow-Party mit drei DJs und Technomusik, dann ist auch die 7. Reutlinger Kulturnacht endgültig Geschichte.

Kosten von 140.000 Euro

Mit 7000 verkauften Tickets rechnet Chef-Organisatorin Edith Koschwitz auch in diesem Jahr, doch genaue Zahlen hat sie noch nicht vorliegen. Gut 140.000 Euro sind notwendig, um die gesamte Stadt Reutlingen zum Kulturort zu machen. 36.000 Euro steuert die Stadt bei. Den Rest muss das Veranstalter-Team durch Sponsoren und Ticketverkäufe einnehmen.