Seelsorge

Religiös hinter Gittern

Viele junge Häftlinge bezeichnen sich als religiös. Doch vor allem für Muslime reicht das aktuelle Betreuungsangebot nicht aus.

22.09.2021

Von Elisabeth Zoll

Ein muslimische Seelsorger (2.v.r.) betet mit Häftlingen in einem Gebetsraum einer Justizvollzugsanstalt. Foto: Silas Stein/dpa

Ein muslimische Seelsorger (2.v.r.) betet mit Häftlingen in einem Gebetsraum einer Justizvollzugsanstalt. Foto: Silas Stein/dpa

Adelsheim/Tübingen. Am Ende der Strecke kommt noch „der Berg“. Mustafa Sary passiert das letzte Steilstück oberhalb der Kleinstadt Adelsheim im Norden Baden-Württembergs. Dann steht er vor dem grauen Tor der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim. Mit seinen 417 Plätzen ist die JVA das zweitgrößte Jugendgefängnis in Deutschland. Mustafa Sary kennt den Weg. Der 53-Jährige ist muslimischer Gefängnisseelsorger. Seit 2017 arbeitet er in der JVA Adelsheim. 44 Stunden im Monat. Er steht dort jungen Strafgefangenen zwischen 14 und 21 Jahren als Gesprächspartner zur Verfügung. Der Bedarf ist groß. „Ich kann gar nicht allen Nachfragen nachkommen“, sagt Sary.

Der Wirtschaftswissenschaftler, der Ende 1991 aus Ägypten nach Deutschland kam, ist einer von 13 muslimischen Gefängnisseelsorgern in Baden-Württemberg. Mit mehr oder weniger Stunden sind sie in 20 Haftanstalten des Landes tätig. „Meine Hauptaufgabe ist Zuhören ohne zu verurteilen,“ sagt Sary. Zum Beispiel, wenn ein junger Mann von seinem Weg ins Drogenmilieu spricht. Oder sich ein Flüchtling sorgt, dass er aus dem Gefängnis die Familie im Heimatland nicht mehr unterstützen kann. Mustafa Sary: „Für manche ist die Haft ein Kulturschock.“ Denn das, wofür junge Männer in Deutschland verurteilt wurden, wird im Heimatland manchmal gar nicht geahndet. Manche könnten die Gründe für die Haft kaum verstehen. Mustafa Sary hört zu, gibt Rat, sagt seine Meinung. Und er spricht über Religion und die richtige Weise, den Koran auszulegen. Wenn das gewünscht wird.

Der Glaube spielt unter Jugendstrafgefangenen eine wichtige Rolle: Von den Inhaftierten schätzen sich 84 Prozent der Muslime und 78 Prozent der Christen als religiös ein. Das hat eine Studie ermittelt, die das Institut für Kriminologie der Universität Tübingen in Kooperation mit dem Kriminologischen Dienst Baden-Württemberg und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) gerade erstellt hat. Daten von 766 männlichen und 62 weiblichen Strafgefangenen zwischen 15 und 25 Jahren aus insgesamt acht Justizvollzugsanstalten des Landes haben die Forscher ausgewertet. „Das Interesse an der Religion hatten wir in diesem Ausmaß nicht erwartet. Es zeigt sich, dass viele Jugendliche im Gefängnis die Religion wiederentdecken, weil sie ihnen Orientierung und ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln kann“, verdeutlicht Projektleiter Tillmann Bartsch.

Manche schätzen es, einem Fremden das Herz auszuschütten

Mustafa Sary kann das bestätigen. Bei seinem Gang durch die elf Hafthäuser der JVA Adelsheim sprechen ihn Häftlinge immer wieder an. Auch zu seinen Freitagspredigten, die er zwei Mal im Monat anbietet, kommen junge Häftlinge. Manche wollen mehr über den Koran wissen, andere schätzen es, einem Fremden das Herz ausschütten zu können. Bei Mustafa Sary stoßen sie auf Verschwiegenheit. Das ist die Grundlage für Vertrauen. Doch ein gesetzlich anerkanntes Schweigerecht haben muslimische Seelsorger im Gegensatz zu ihren christlichen Kollegen nicht. Dazu müsste ein solches Gebot zunächst einmal in muslimischen Glaubensgemeinschaften selbst verankert werden, betonen die Verantwortlichen der Studie.

Mustafa Sary, der Vater von drei Söhnen ist, kann sich über fehlende Wertschätzung der Gefängnismitarbeiter oder seiner christlichen Kollegen nicht beklagen. „Wir arbeiten auf Augenhöhe“, sagt er. Und dennoch gibt es Unterschiede. Während seine christlichen Kollegen hauptamtlich beschäftigte Seelsorger sind, arbeitet Sary ehrenamtlich. Seine Aufwendungen werden vom Verein „Mannheimer Institut islamische Seelsorge“ beglichen. Die in der Regel geringen Stundendeputate machen eine intensive Betreuung von Strafgefangenen unmöglich. Darauf hat auch das Osnabrücker Institut für Islamische Theologie hingewiesen. Es macht sich stark für eine Professionalisierung der Strukturen muslimischer Gefängnisseelsorge.

Der Anteil junger Muslime in deutschen Jugendstrafanstalten liegt derzeit bei etwa 40 Prozent. Radikale Glaubensvorstellungen hat davon nur eine kleine Minderheit. Diese Gefahr werde überschätzt, betonen die Forscher aus Tübingen. „Ein verfestigtes extremistisches Weltbild verbunden mit Gewaltbereitschaft haben wir nur bei einem Prozent der Inhaftierten festgestellt, und es gibt ein dichtes Kontrollnetz, das verhindert, dass sich solches Gedankengut in den Anstalten verbreitet“, sagt Jürgen Thomas vom Kriminologischen Dienst Baden-Württemberg.

„Das Unwissen ist groß. Deshalb sind die jungen Menschen so beeinflussbar,“ betont Mustafa Sary. „Viele junge Männer sprechen einfach nach, was ihnen andere gesagt haben.“ In Gruppen- und Einzelstunden fordert der Seelsorger die jungen Männer deshalb auf, selbst über die Botschaft des Koran nachzudenken. Dass er dies in arabischer Sprache tun kann, macht die Gespräche einfacher. Wenn man mit den jungen Männern spreche, könne man sie auch zum Nachdenken bewegen, ist sich Sary sicher. Er jedenfalls wird das weiter versuchen.

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Erstellt:
22.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 22.09.2021, 06:00 Uhr

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