Kunsthalle Tübingen

Marina Abramovic: Reise zum spirituellen Kern

Eine Ausstellung leuchtet das Lebens- und Leidenswerk der Performance-Pionierin Marina Abramovic in vielen Facetten aus.

24.07.2021

Von Wilhelm Triebold

Impressionen von der Tübinger Abramovic-Ausstellung

Bilder: Ulrich Metz
Marina Abramović bei der Werkschau-Eröffnung vor dem Vanitas-Mittelteil der Vide...
Marina Abramović bei der Werkschau-Eröffnung vor dem Vanitas-Mittelteil der Video-Installation „The Kitchen, Homage to Saint Teresa“ Bild: Ulrich Metz

© ST

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Ein Kunst-Weltstar im beschaulichen Tübingen – wie kommt es denn dazu? Was viele nicht wussten: Marina Abramovic, die demnächst ihren 75. Geburtstag feiert, hatte ihre beeindruckende Karriere Mitte der 1970er-Jahre nicht zuletzt in der Tübinger Halbhöhenlage begonnen, wo eine Galeristen-Familie sie (und ihren damals noch symbiotischen Künstlerlebenspartner Ulay) warmherzig aufnahm, aber auch frühzeitig ausstellte.

Von diesen Anfängen der brotlosen Hungerkunst erzählt die aktuelle Werkschau „Jenes Selbst/Unser Selbst“ in der Tübinger Kunsthalle zwar auch. Doch weit mehr noch als die Rückbesinnung ist sie eine Neubesinnung, ein anderer Blick auf eine Künstlerexistenz der Extreme.

Seelentrip ins Innere

Denn bei all den spektakulären Aktionen der Solo-Performerin, die als passionierte Schmerzensfrau und Leidensfigur in die Kunstgeschichte eingehen wird, ergab sich übers Nomadentum samt den weiten Reisen zu fernen Kulturen ein Seelentrip ins Innere, zum „energetischen Dialog und den Elementen der Natur“, wie es der kluge Kuratorenplan der Kunsthallenchefin Nicole Fritz sieht und auch vorsieht.

Um es vorwegzunehmen: Die Ausstellung ist glänzend umgesetzt, mit hohem technischen Aufwand und dabei hochprofessionell in der Ausführung. Die Performancekunst lebt vom Momentum, von Kontakt oder zumindest Nähe zum Publikum, wie die ganz und gar nicht divenhafte Künstlerin beim Vorstellungstermin kundtat.

Ohne diese direkte Begegnung, die (Al-)Chemie zwischen körperlich Anwesenden, ist auch die bedingungslose Körperkunst der Marina Abramovic nur noch halb so viel wert: das ausgestellt konzentrierte und kontemplative Da-Sein einer Artistin, die oftmals an Grenzen geht.

Nun kann und will die Künstlerin, die in den USA lebt, schlechterdings jeden Öffnungstag in der Kunsthalle vor Ort sein, weshalb es eben auf exakte technische Intensivierung ankommt, um den Besuchern einen Eindruck von Abramovics „Selbst“-Erfahrung zu vermitteln.

Die Kunsthalle ist weitgehend auf ein weihevolles Saallicht heruntergedimmt, darin die perfekt in Szene gesetzten Videos, teils noch mit Widerpart Ulay – etwa das ikonische „Rest yourself“, in dem ein Pfeil samt gespanntem Bogen auf Marina Abramovics? Herz gerichtet bleibt.

Bußfertige Selbstgeißelung

Hier im großen Saal finden sich noch weitere Schlüsselarbeiten der Werkphase, in der die Solistin die energetischen Kräfte ganz auf die Leidensbereitschaft des eigenen Körpers und das Überwinden der Pein richtete. Die bußfertige Selbstgeißelung der Sequenz „Spirit House“ lässt Lustschmerzschreie noch über den Raum hinaus erschallen, während in den oberen Räumen zentrale Werke wie das Kamillenblütenbad „Programming Levitation“ (mit leibhaftigem Teilzeit-Model in der Wanne, zumindest während der Öffnungszeiten!) oder das fantastische „Currrent“-Video der animistisch aufgebahrten Marina Abramovic der andächtigen Entdeckung harren.

Das Spirituelle, Schamanenhafte, (Natur-)Religös-Mystische – das ist der eine Zugang, den diese exzellente Kunsthallen-Schau zum Leben und Werk der Künstlerin sucht. Der andere ist ziemlich neu und beschert Tübingen sogar eine Welturaufführung. Im obersten Raum bittet weißgekitteltes Hilfspersonal mit dezenten Gesten, sich desinfizierte VR-Brillen überzustreifen, und nach einem kurzen QR-Code-Check-In steht sie tatsächlich in einem Kreis – die künstlich erzeugte Künstlerin, die ein paar gemessene Hohepriestergesten ausführt.

Das sei keine rein virtuelle Realität, sondern „Mixed Reality“: Darauf legt Marina Abramovic im Gespräch allergrößten Wert. Denn die zusammengemixte Wirklichkeit blendet die vorhandene Umgebung nicht völlig aus, flüchtet also nicht derart komplett ins virtuelle Nirwana wie die anderen Spielweisen der Künstlichen Intelligenz.

So gesehen passt dieser aufregende Schlussstein der Tübinger Ausstellung bestens zur Gesamtschau. Die Künstlerin ist nicht mehr da, aber nicht abwesend. Sie versetzt sich in einen transzendenten, „unsterblichen“ Zustand der Zwischenexistenz. Das dies der Ausstellung gelingt, das ist ihr größtes Verdienst.

Zeit und Raum für den Besuch nehmen

Die Schau „Jenes Selbst/Unser Selbst“ läuft in der Tübinger Kunsthalle noch bis zum 13. Februar kommenden Jahres. Neue Öffnungszeiten sind die ganze Woche über von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 19 Uhr.

Das umfangreiche Katalogbuch versammelt vor allem Beiträge von Autoren verschiedener Disziplinen, die sich etwa aus religions-, literatur- oder medienwissenschaftlicher Perspektive mit dem Werk von Marina Abramovic auseinandersetzen, es kostet 38 Euro. Die Kunsthallenleiterin Nicol Fritz rechnet vorsichtig geschätzt mit kaum mehr als 30 000 Besuchern dieser Schau, für die man sich aber auch Zeit und Raum nehmen sollte.

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Erstellt:
24.07.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 04sec
zuletzt aktualisiert: 24.07.2021, 06:00 Uhr

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