Realistisch bis zur feinsten Pore

Almost Alive: Hyperrealismus in der Tübinger Kunsthalle

Muskelmänner, Cowboys, Liebespaare, Nackte und Riesenbabies: Auf lebensecht getrimmte Skulpturen bevölkern derzeit die Tübinger Kunsthalle.

25.07.2018

Von BURKHARD MEIER-GROLMAN

Skulpturen, ganz nahe an der Wirklichkeit dran: Zharko Basheskis „Ordinary Man“  und die Silikon-Dame „Kneeling Woman“ von Sam Jinks in der Kunsthalle Tübingen. Foto: Gerda Meier-Grolman

Skulpturen, ganz nahe an der Wirklichkeit dran: Zharko Basheskis „Ordinary Man“ und die Silikon-Dame „Kneeling Woman“ von Sam Jinks in der Kunsthalle Tübingen. Foto: Gerda Meier-Grolman

Ja, das ist schon so, die Tübinger Kunsthalle will sich jetzt ranschmeißen ans neugierige große Publikum, will am liebsten Jahrmarktstrubel satt mit Riesenrad, Feuerwerk, Panoptikum samt dem dort üblichen Klimbim und Pipapo ins Haus holen. Nein, nicht dass die auf hyperrealistische Skulpturen setzenden Kunstwerker nun Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett ernsthafte Konkurrenz machen wollen, indem sie Charlie Chaplin, Karl Marx oder Greta Garbo weitere Prominente an die Seite stellen. Weder die gestandenen Hohepriester dieses hochprozentigen Realismus wie etwa die Amerikaner Duane Hanson, John DeAndrea oder George Segal kümmern sich groß um die Belange der High Society, auch der jüngeren Generation der Hyperrealisten wie Ron Mueck, Tony Matelli oder Gregor Schneider sind irgendwelche Filmgrößen oder Staatspräsidenten schnurzpiepegal.

Diese Künstler haben Menschen wie du und ich im Auge. Die Mittelschicht – und dann und wann auch mal die Unterschicht ist ihr Terrain, dort gibt es für sie was zu holen. Und für uns, die Kunsthallengänger, bringt diese Interessenlage noch einen zusätzlichen Kick, wenn wir diesen uns bis in die Hautporen hinein tatsächlich lebensecht nachgebildeten Wiedergängern gegenüberstehen.

Dabei kommen diese Jedermänner und Jederfrauen keinesfalls bedrohlich rüber. Im Gegenteil, sie sind durchweg gutartig und meist gut gelaunt, sind sympathisch, wirken völlig unaufdringlich, weil sie ja ohne Sprachvermögen auskommen müssen. Wir können ihnen also erzählen, was wir wollen, sie werden nicht antworten, sie werden unser Geschwätz seelenruhig ertragen.

Da sitzt zum Beispiel Duane Hansons Anabolika-Junkie, ein Bodybuilder, apathisch und vom Hantelheben total erschöpft vor uns auf einem Schemel. Hinter ihm posiert neben einem Strohballen ein veritabler Cowboy in voller Montur. Und vor den beiden stummen Kunstfiguren hat John DeAndrea seine nackte Lisa auf dem Kunsthallen-Boden schlafen gelegt.

Diese teils schon in den 80er und 90er Jahren gefertigten Plastiken – man will es gar nicht glauben, dass es sich hier um bemalte Bronzen handelt – sind so heutig und real, dass jüngere Künstler wie der Australier Ron Mueck zu Tricks greifen müssen, um uns zu verblüffen. Sein frisch geborenes Riesenbaby misst ganze fünf Meter und wäre auch als Nachwuchs für Gulliver schon fast zu groß geraten.

Staunen dürfen wir auch über Tony Matellis Josh aus dem Jahr 2010. Der Silikon-Beau mit den haarigen Beinen hat die Schwerkraft hinter sich gelassen und schwebt still vergnügt 20 Zentimeter über dem Hallenboden. Bei dem Mazedonier Zharko Basheski stemmt sich ein übergroßer nackter Mann sogar aus dem betonierten Untergrund und mischt sich unter die schockierten Kunsthallen-Besucher. Und bei Gregor Schneider wissen wir nicht so recht, ob wir betroffen sein müssen oder vielleicht doch auch wenig schmunzeln dürfen, denn er legt seine ärmlich gekleidete „Alte Hausschlampe“ von 2001 wie überflüssigen Menschenmüll einfach so in einer Raumecke ab.

Die Tübinger Skulpturen-Schau „Almost Alive“ schafft zweierlei: Erstens ist sie ein probates Mittel gegen die mit unglaublicher Geschwindigkeit über uns hereinbrechende Digitalisierung. Hier sind wir derart fasziniert von diesen konsequent auf Wirklichsnähe getrimmten und uns bis aufs einzelne Barthaar gleichenden Alter Egos, dass wir unser Smartphone endlich mal wieder kurz beiseite legen. Zweitens ist diese hyperrealistische Menschenschau hervorragend dazu geeignet, dass wir quasi in einer Art von Selbstbespiegelung auch mal überlegen, zu welchen echten Gefühlsäußerungen wie Freude, Schmerz oder Trauer wir überhaupt noch taugen.

Die Sache mit dem Smartphone hat sich dann allerdings wieder schnell erledigt, denn diese Alleskönner werden schnell wieder aus der Tasche gezogen, um möglichst viele Selfies mit den Nackten, den Cowboys und den Hausschlampen zu schießen.