Der eigenen Partei ist Boris Palmer nicht grün

Reaktionen auf Palmers Buchvorstellung: Vor Ort und bundesweit überwiegen die kritischen Stimmen

Am Donnerstag stellte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ in Berlin vor. Zusammen mit der stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden Julia Klöckner. Das war ein doppeltes Zeichen.

04.08.2017

Von Gernot Stegert

Boris Palmer Bild: Franke

Boris Palmer Bild: Franke

Klöckner hatte sich in der Flüchtlingsfrage im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf von Bundeskanzlerin Angela Merkel distanziert. Und vor allem saß kein Politiker der Grünen an Palmers Seite. Klöckner fand das Buch „sehr lesenswert“. Es habe mit „Wir können nicht allen helfen“ aber den falschen Titel.

Viele Grüne stellten sich gegen den Tübinger OB. Schon im Vorfeld sagte die Berliner Bundestagskandidatin Canan Bayram, Palmer solle „einfach mal die Fresse halten“. Der Bundestagsabgeordnete und Dauerkontrahent Volker Beck sagte ungewöhnlich zurückhaltend: „Schön für Boris Palmer, dass er Zeit hat, ein Buch zu schreiben.“ Kathrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin im Bundestag und einst echte Parteifreundin, hat die Thesen zur Flüchtlingspolitik zurückgewiesen. Es gebe bei den Grünen keinen „blockierten“ Diskurs. Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte das Buch zur Privatsache. Er wolle es auch nicht lesen.

Viel Kritik muss Palmer auch von den heimischen Grünen einstecken. Der Kreisvorstand gab zwar zu, den Inhalt nicht zu kennen, erklärte aber: „Palmers Buch stellt einen privaten Beitrag zur aktuellen politischen Debatte dar. In Tübingen können wir jedoch Boris Palmers Vorwurf eines blockierten Diskurses nicht nachvollziehen.“ Im Kreisverband habe man bei mehreren Kreismitgliederversammlungen, Veranstaltungen und Sitzungen über die Flüchtlings- und Integrationspolitik diskutiert und Beschlüsse gefasst. „Boris Palmer hat bei diesen Veranstaltungen mitdiskutiert, konnte sich aber nicht inhaltlich durchsetzen. Der Diskurs innerhalb der Tübinger Grünen ist nicht blockiert, sondern er kam im Ergebnis einfach zu einer anderen Haltung als Boris Palmer.“

Der Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn hat das Buch gelesen und schrieb gestern: „Als Tübinger kenne ich die Lust von Boris Palmer an der Provokation und seinen Hang zur großen Bühne sehr gut. Ich schätze Boris Palmer dennoch für seine kommunalpolitische Arbeit, auch wenn ich in der Flüchtlingspolitik seine Positionen in vielen Punkten nicht teile.“ Und weiter: „Meine Kritik an seinem Buch ist vor allem die, dass er die reale Situation in Tübingen nicht beschreibt: Gerade in Tübingen gibt es eine gelebte Willkommenskultur, viel ehrenamtliches Engagement und eine lange Tradition der Flüchtlingshilfe.“ Kühn betont: „Wir haben die Flüchtlingskrise von 2015 in Tübingen hervorragend gemeistert und darauf sind wir zu Recht stolz. Mit dem sogenannten Tübinger Weg haben wir bundesweit Anerkennung erhalten, unter anderem für eine dezentrale Unterbringung von geflüchteten Menschen in allen Stadtteilen.“ Kritisch sieht Kühn Palmers Aktivität auf Facebook: „Mit seinen oft vorschnellen und unüberlegten Posts erreicht Palmer genau das Gegenteil von dem, was er sich angeblich wünscht und was tatsächlich wünschenswert wäre: eine offene und sachliche Debatte.“

Christoph Joachim, Fraktionsvorsitzender von AL/Grünen im Gemeinderat, schrieb dem TAGBLATT als Privatperson: „Boris Palmer klagt wie so oft die offene Auseinandersetzung ein. Das Buch soll auch rechtfertigen. Für seine Art, unbequeme Sachverhalte zu kommentieren. Und es soll gegen die vielfachen Versuche, Palmer in die rechte Ecke zu stellen, helfen. Gelingt das? Teilweise.“ Joachim kritisch: „Ob eine Aufrechnung hoher Gefährdungslagen beispielsweise in Chicago gegen eine völlig anders gelagerte in Bürgerkriegsgebieten hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Auch der Versuch, die Rate der Straffälligkeit von zu uns geflohenen jungen Männern aufzuhellen, ist Boris Palmer nicht gelungen. Das Ansprechen von Ängsten birgt das Risiko, schnell falsch verstanden zu werden.“ Ausgewogen urteilt Joachim: „Seine manchmal zu voreiligen Kommentierungen im Zusammenhang mit dem Thema Flüchtlinge werden auch mit dem Buch nicht ungeschehen gemacht. Zweifellos kann jetzt aber von wohlüberlegten und reflektierten Thesen ausgegangen werden.“

Joachim wertet die Vorstellung des Buches mit Julia Klöckner als Versuch, die Grünen für eine Koalition mit den Konservativen zu empfehlen. Horst Seehofer habe vor Veröffentlichung bereits entsprechend reagiert. „Das wird nicht alle bei uns Grünen freuen“, meint der Tübinger und wagt die These: „Palmer spielt sich damit als OB einer Stadt im Schwäbischen mitten im Bundestagswahlkampf nach vorne.“

Erste Kommentare in den Medien

Das Echo in denMediengestern war geteilt. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dokumentierte lediglich Buchauszüge. Wohlgesonnen kommentierte Mariam Lau für „Die Zeit“: „Es ist absurd, dass Palmer tatsächlich von Parteifreunden schon auf den bloßen Titel des Buchs hin die Aufforderung bekam, ,einfach mal die Fresse zu halten‘. Die Flüchtlingskrise wird nicht aufhören, eine Krise zu sein. Wir werden besser werden müssen. Die Grünen brauchen beide: Volker Beck und Boris Palmer.“ Katharina Thoms vom SWR meinte online: „Immer wieder taucht der Palmersche Dreiklang auf: Abgrenzen von Populisten; Missstände verallgemeinernd anprangern und sich wundern über die Entrüstung, die dann losbricht.“

Zum Artikel

Erstellt:
04.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 04.08.2017, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Recht und Unrecht
Sie interessieren sich für Berichte aus den Gerichten, für die Arbeit der Ermittler und dafür, was erlaubt und was verboten ist? Dann abonnieren Sie gratis unseren Newsletter Recht und Unrecht!