Tübingen · Landtagswahl

TAGBLATT-Podium: Räuber Hotzenplotz und der Fahrradzahnkranz

Vor dem Wahlsonntag präsentierte das TAGBLATT die sechs Kandidierenden der Landtags- und Bundestagsparteien online. Das Format ermöglichte nur wenig Streitgespräche. Dennoch klärten sich viele Positionen.

10.03.2021

Von Renate Angstmann-Koch

Was hat Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ mit der Landtagswahl zu tun? Daniel Lede Abal, 44, klagte darüber, wie schwierig es gerade sei, seinen drei Kindern gerecht zu werden und ihnen aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. Der Tübinger Abgeordnete ist Sprecher der Landtagsgrünen für Migration und Integration und stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuständig auch für Innere Sicherheit.

Vorab hatte TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert die Kandidatinnen und Kandidaten gebeten, zum Online-Podium am Dienstagabend einen Gegenstand mitzubringen, der sie und ihr Anliegen symbolisiert. Anfangs gab es technische Schwierigkeiten. Ingo Reetzke, AfD, installierte das nötige Skype-Programm erst direkt vor Beginn und schaltete sich eine halbe Stunde später zu – meist mit schwer oder gar nicht verständlicher Tonqualität.

Die Vorstellungsrunde

60 Sekunden Zeit bekam jede und jeder, um sich vorzustellen. Die etwa 400 Zuschauerinnen und Zuschauer am heimischen Bildschirm erfuhren, dass sich die CDU-Kandidatin Diana Arnold, 38, Mutter von drei Kindern, Oberndorfer Ortsvorsteherin und Polizeibeamtin, als „Hüter von Ordnung und Gesetz“ versteht. Sie verwies auf den Eid, den sie geleistet hat. Es sei ihr „eine Herzensangelegenheit“, für das Land und seine Menschen da zu sein, sagte sie, als sie ihre erste Uniformmütze in die Bildschirm-Kamera hielt.

Die SPD-Kandidatin Dorothea Kliche-Behnke, 39, drei Kinder, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Tübinger Stadträtin, in der Kirche engagiert und Vorsitzende der Familienbildungsstätte. Es schade nicht, wenn Politiker Erfahrung in der „freien Wirtschaft“ hätten. Die Referentin der Geschäftsführung eines mittelständischen Betriebs der Fahrradbranche hatte eine Zahnradkassette mitgebracht, die für ökologische Mobilität und für Innovation stehe. Sie wolle einen handlungsfähigen, aktiven Staat und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Irene Schuster, 32 und Kandidatin der FDP, zeigte ein Schulmäppchen, das sie derzeit in ihrer zweiten Klasse verwende. Schuster hat Französisch, Evangelische Theologie und Kunstgeschichte in Tübingen und Toulouse studiert und sich als Gymnasiallehrerin für die Grundschule weiterbilden lassen. „Bildung ist die Keimzelle all meines politischen Handelns“, sagte sie. Auch habe sie einen Verband „Liberale Vielfalt“ gegründet, der sich für Menschen mit Migrations- oder Spätaussiedlerhintergrund und für deutsche Jüdinnen und Juden einsetzt.

Claudia Haydt, 54, kandidiert für die Linke. Die gelernte Heilerziehungspflegerin hat Religionswissenschaft und Soziologie studiert. Bis vor kurzem bildete sie angehende Sozialarbeiter aus. Sie war im Gemeinderat und Kreistag, engagiert sich aber auch europapolitisch. Sie zeigte eine Friedensfahne in Regenbogenfarben, die sie ihr ganzes Leben schon begleite: „Wesentliche Menschheitsaufgaben werden nicht mit Panzern gelöst, sondern durch zivile internationale Kooperation.“

Mit Verspätung stellte sich auch Ingo Reetzke, 60, vor. Der Kandidat der AfD für Tübingen und Reutlingen ist Rechtsanwalt. Seine Partei habe ihn in beiden Wahlkreisen nominiert, um in Tübingen überhaupt ein Angebot machen zu können, bekannte er. Einen Gegenstand hatte er nicht ausgewählt.

Thema Bildungspolitik

Als erstes Thema rief Gernot Stegert die Bildung als zentrale Aufgabe der Landespolitik auf. Auch in den Themenrunden bekamen die Kandidaten für ihre Antworten nur jeweils eine Minute Zeit, es lief ein Timer. Die Grünen hätten in den beiden Jahren an der Regierung schon vieles umgesetzt, erklärte Lede Abal – etwa gegen den Sanierungsstau an den Hochschulen. Doch Politik ende nicht nach fünf Jahren, konterte er einen Vorwurf des Moderators. Den Grünen gehe es um faire Chancen, Bildungsgerechtigkeit, und auch um soziale Aspekte. „Wir brauchen jetzt viel Dialog und Kommunikation, weil sich die Schulen allein gelassen fühlen“, spielte er auf die Corona-Situation an. Man müsse nun Ruhe in die Bildungspolitik bringen und die Ressourcen klug steuern.

„Ich habe Kinder in drei Schularten“, sagte Arnold. Auch Schulen seien ihr eine „Herzensangelegenheit“. Sie wolle aber „nicht in den Rückspiegel schauen“, antwortete sie auf die Frage des Moderators, weshalb die CDU in all ihren Regierungsjahren die Digitalisierung nicht weiter vorangebracht habe. Man brauche nun nun einen eigenen IT-Support. Die verschiedenen Betreuungsarten müssten „gleichberechtigte Säulen“ sein, begründete Arnold, weshalb sie gebührenfreie Kitas eher ablehne. Nur im letzten Kindergartenjahr sei das sinnvoll und eher zu finanzieren.

„Was können Sie besser?“, spielte Stegert auf einen Wahlslogan Kliche-Behnkes an. „Die Wähler sollten sich bewusst machen: Wer CDU wählt, wählt auch Susanne Eisenmann“, warnte sie. SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sei als Kultusminister wesentlich besser gewesen. Er habe nun einen Fahrplan für einen Schutzschirm für die Schulen.

Baden-Württemberg habe zu wenig Geld aus dem Digitalpakt abgerufen, kritisierte Schuster. Ihr seien Bildung als soziales Aufstiegsversprechen, Chancengerechtigkeit und lebenslanges Lernen wichtig. Auch wolle sie an der Mehrgliedrigkeit des Schulsystems festhalten und die Real- und Berufsschulen stärken. Die Grundschulempfehlung solle verbindlich sein. Es geben sonst zunehmende Heterogenität an Gymnasien und Realschulen, dazu Frustration und Bildungsverlierer.

Lede Abal wies diesen Zusammenhang umgehend zurück: Die Kinder, die eine andere Grundschulempfehlung hatten, seien nach Untersuchungen gerade nicht diejenigen, die das Klassenziel nicht erreichten.

Mag das Gymnasium auch bei den Eltern beliebt sein: Man könne sie davon überzeugen, dass gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse besser sei, ist sich Haydt sicher. Kinder entwickelten sich sehr unterschiedlich. Würden sie früh auf verschiedene Schularten verteilt, bewerte man nicht das Kind, sondern die Eltern. Die Linke wolle auch die Kosten für Schülermonatstickets angehen, sie wirkten wie Schulgeld. Zur Finanzierung könne das Land die Vermögenssteuer anstoßen.

„Bei der gebührenfreien Bildung sind wir einig mit der Linken“, sagte Kliche-Behnke. Man brauche im ganzen Land gleichwertige Lebensverhältnisse. Sie wolle, dass künftig überall das Schulessen kostenlos ist, sehe dafür aber in den nächsten fünf Jahren noch keine Möglichkeit.

Ingo Reetzke ist Gegner des achtjährigen Gymnasiums und will zurück zu G9. Er sehe immer wieder, dass Schüler ganztags „in so genannten Campussen unterwegs“ sind. Dabei solle Lernen Spaß machen: „Wenn man von morgens bis abends in der Schule ist, ist das sowas wie die Vorstufe zu einer Kaserne.“

Thema Corona-Management

Sozialminister Manfred Lucha habe lange Corona-Tests blockiert, die Tübingens OB Boris Palmer propagiere, hielt Moderator Stegert Lede Abal vor. Der Grünen-Kandidat bestritt, dass Lucha blockiert habe. Die Landesregierung habe auch bei den Tests auf ein bundesweites Vorgehen gesetzt.

Arnold konterte den Vorwurf, die CDU-Kultusministerin Eisenmann habe mehrfach viel zu kurzfristig neue Vorschriften für die Schulen erlassen. Um 23.57 Uhr sei ein Fax aus dem Staatsministerium mit Anweisungen eingegangen, das die Ortsvorsteher „Hals über Kopf“ gleich nach Mitternacht hätten umsetzen müssen.

Kliche-Behnke kritisierte zwar die Terminvergabe für die Impfungen. Dennoch verteidigte sie das Vorgehen der Landesregierung in einer „außergewöhnlichen Krise“. Damit die Leute nicht das Vertrauen verlieren, dürfe man nicht in Polemik verfallen: „Es ist auch vieles gut gelaufen.“

Reetzke, der selbst an Corona erkrankte, verneinte jede Nähe zu „Querdenkern“, forderte aber eine „Versachlichung der Diskussion“. Die Wissenschaft sei in vielem uneins. Die Existenz des Virus sei unstrittig, wie gefährlich es sei, wisse er jedoch nicht. Viel früher hätte man das Impfen in die Hände der Hausärzte legen sollen. Schuster hätte sich schon viel früher den von der FDP geforderten Stufenplan gewünscht.

„Dass Fehler passieren, ist klar“, sagte auch Haydt. Aber spätestens im Sommer hätten wir wissen müssen, dass das Virus wiederkommt.“ Die Linke habe Tests und Luftfilter gefordert. Auch hätte man versuchen müssen, Personal für die Kliniken zurückzugewinnen. Den Schülerverkehr hätte man durch den Einsatz von Reisebussen entzerren können.

Klimaschutz und Wirtschaft

Auch die AfD bezweifle nicht den Klimawandel, sagte Reetzke. Wie sehr er menschengemacht ist, sei die andere Frage. Er glaube nicht, dass der deutsche oder europäische Beitrag zum Klimaschutz im Vergleich zu Asien oder den USA von Belang ist.

„Die Linke steht für sozialökologischen Umbau, der alle mitnimmt“, betonte Haydt. Bis 2035 wolle man klimaneutral und danach klimapositiv sein. Man könne innovative Arbeitsplätze schaffen, um das umzusetzen. Global seien die reichsten 10 Prozent für über die Hälfte des CO2-Ausstoßes verantwortlich. Aus Kliche-Behnkes Sicht hinkt das Land hinterher. Man brauche eine Solardachpflicht für Neubauten, müsse Hindernisse für die Windkraft beseitigen und „aktive Industriepolitik“ betreiben, da jeder 10. Arbeitsplatz im Land am Auto hänge. „Wer um seine Existenz kämpft, jeden Tag, wird sich um Klimaschutz nicht kümmern“, warnte sie. Arnold verwies darauf, dass sie im Wahlkampf viele Unternehmen besucht habe. Sie wolle „keine Verbotspolitik“, sondern Anreize setzen. Ihre Partei stehe klar hinter dem Pariser Klimaschutzabkommen.

Ökologie und Ökonomie müssten kein Gegensatz sein, man setze auf Technologie und Innovation, sagte Irene Schuster. Wichtig sei der Transfers von Klimaschutz-Innovationen ins Ausland und eine Ausweitung des Emissionshandels. „Klimaschutz ist eine Chance auf einen großen Innovationsschub“, ist auch für Lede Abal keine Frage. Er verbuchte es als Erfolg von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, einen höheren CO2-Preis durchgesetzt zu haben.

Thema Verkehr

Lede Abal kennt zwar den Unmut über schlechte Bahnverbindungen, sieht aber dennoch große verkehrspolitische Erfolge der Grünen – etwa die Preissenkungen beim landesweiten Regioticket. Im ÖPNV brauche man aber die Unterstützung der Kommunen. Die Endelbergtrasse lehnt er ab, „solche antiquierten und ökologisch katastrophalen Projekte gehören überprüft“. Auch der Bau eines Tunnel bringe eine hohe Klimabelastung, entgegnete Arnold. Die SPD wolle die Nutzerzahl des ÖPNV bis 2020 verdoppeln, sagte Kliche-Behnke. Sie fordere ein 365-Euro-Ticket und bessere Rad- und Fußwegeverbindungen. „Die Zukunft gehört dem E-Auto und möglicherweise dem Wasserstoff. Aber da bewegt man sich noch auf dem Level „Jugend forscht“. Reetzke war bei diesem Thema nicht zu verstehen. Die FDP setzt auf Flexibilität, eine pragmatische Verkehrspolitik und einen Mix. „Wir wollen den Menschen nicht das Auto wegnehmen, sondern eine Mobilitätsgarantie“, sagte Claudia Haydt. Man brauche auch auf dem Land viel mehr und überall barrierefreie Verkehrsangebote.

Als Moderator Stegert eine Mobilitätsvision mit Handyticket über Verbünde hinweg entwarf, schwieg das Podium zunächst. Schließlich signalisierten die hochgehenden Hände von Kliche-Behnke, Lede Abal und Arnold Zustimmung. Auf die Frage, welche Themen ihnen besonders am Herzen liegen, führte Reetzke noch die Kraftstoffpreise, Schuster die Kulturpolitik, Haydt und Kliche-Behnke den Wohnungsbau an. Lede Abal treiben die wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen der Corona-Pandemie um, Arnold das Ehrenamt und ebenfalls der Zusammenhalt.

Schlussakkord

Zuletzt hatten die Zuschauer das Wort. Unter vielen eingereichten Fragen wählte Redakteur Moritz Hagemann zwei Komplexe aus: die von OB Boris Palmer verfolgte Teststrategie auch für Auswärtige und zuletzt die Rolle der Landwirtschaft. Schuster, als erste an der Reihe, gab zu, dem Thema „aus dem Stegreif nicht gerecht werden zu können“. Haydt machte den Aufschlag mit „gesunde Lebensmittel produzieren, einen Beitrag zur Artenvielfalt leisten und weniger Methangase erzeugen“. Dem schlossen sich die anderen Kandidaten im wesentlichen an – Arnold mit der Aufzählung „Tierwohl, Natur, Landschaftsschutz“.

Ähnlich schlagwortartig fielen die Schluss-Statements aus: Lede Abal will sich für Klimaschutz, Artenschutz und Tübingen als Wissenschaftsstandort stark machen, Arnold für „Ehrenamt, Sicherheit, Familie, Zukunft“, Kliche-Behnke für eine sozial-ökologische Mehrheit im Landtag, Reetzke für den Schutz vor staatlicher Lenkung und hohen Ausgaben. „Bildung ist systemrelevant, Bildung ist Menschenrecht“, betonte Schuster. Haydt verwies darauf, dass ihre Partei keine Unternehmensspenden annehme. „Wir nehmen auch keine Unternehmensspenden für Masken“, ergänzte sie die Feststellung des Moderators, Parteispenden anzunehmen sei nicht gleichbedeutend mit Bestechlichkeit.