Radikal bis banal

Leitartikel zum Ende der „Lindenstraße“

Früher einmal war die „Lindenstraße“ ihrer Zeit oft voraus. Ob Aids, Rechtsextremismus oder das Schicksal von Flüchtlingen: Was in der Gesellschaft noch beschwichtigt oder tabuisiert wurde, fand in der künstlichen Kulissenwelt dieser Vorstadt-Meile eine Bühne.

28.03.2020

Von Tanja Wolter

Auch die Corona-Krise wäre sicher schnell in die Drehbücher eingeflossen. Vor unserem geistigen Auge erahnen wir schon den sorgenvollen Blick von Mutter Beimer, wenn sie ein Kratzen im Hals bemerkt. Wir sehen, wie Ex-Taxifahrer Andy Zenker Klopapier hortet und sich deshalb mit seiner Gabi verkracht. Und würde es Else Kling noch geben, könnte es ihr letzter Auftritt sein. So aber starb der Hausdrachen schon in Folge 1069 – beim Fernsehen.

Die bisher größte Krise in der Geschichte der Bundesrepublik wird die Bewohner der „Lindenstraße“ nicht mehr erreichen. Die Abschiedsfolgen sind seit Dezember im Kasten. Am 29. März strahlt das Erste nach fast 35 Jahren um 18.50 Uhr mit „Auf Wiedersehen“ Nummer 1758 und damit das Finale aus – so der Plan. Aber was sind schon Pläne in diesen Wochen. Selbst wenn es bei der gewohnten Uhrzeit bleibt: Die sicherlich fulminante letzte Folge wird gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs, den die Autoren stets hatten, aus der Zeit gefallen scheinen. Der Spiegel der Gesellschaft wird unter veralteten Prämissen abgehängt. Traurig für die Macher, aber auch symptomatisch.

Die „Lindenstraße“ erreichte seit vielen Jahren nur noch ein überschaubares Fan-Publikum. Die meisten Serienkonsumenten wollen heute nicht mehr mit dem Alltagsleben und damit ihrer eigenen Gewöhnlichkeit konfrontiert werden. Sie lassen sich lieber in Fantasiewelten oder rasante Action-Abenteuer von Netflix und Co. entführen. Die Realität soll gefälligst draußen bleiben. Über die hat man sich ohnehin längst in sozialen Medien ausgetauscht.

So wirkte es über die Jahre zunehmend erzwungen bis banal, wenn sich die Bewohner mit aktuellen Fragen auseinandersetzten. Oft war der mahnende Zeigefinger spürbar, und das Milieu wirkte immer verstaubter. Der einst radikale Ansatz hatte sich überholt. Letztlich führte der Zuschauerrückgang bei gleichzeitig hohen Produktionskosten und Sparzwängen der Öffentlich-Rechtlichen zum Aus.

Die „Lindenstraße“ ist aber nur ein Beispiel dafür, wie der veränderte Medienkonsum und neue Sehgewohnheiten das Fernsehen unter Zugzwang setzen. Zu sehen ist der Wettbewerb um Effekte und Spektakel ja auch an teilweise immer bizarreren „Tatort“-Folgen mit irrlichternden Kommissaren. Alles muss unverwechselbar sein, jeder muss noch was obendrauf setzen. Da passt das ganz normale kleinbürgerliche Leben nicht rein.

Deutschlands längste Seifenoper bekommt dennoch einen wichtigen Platz in der Medienhistorie. Das Experiment ist viele Jahre geglückt, hat Debatten angestoßen und unterhalten. Wer in ferner Zukunft etwas über die deutsche Gesellschaft zwischen 1986 und 2020 erfahren will, wird in der „Lindenstraße“ fündig. Und wir wissen doch alle: Den Wert bemerken wir oft erst, wenn es vorbei ist.

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Erstellt:
28.03.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 28.03.2020, 06:00 Uhr

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