Tübingen · Alter Bota

Unterdrückung oder Kampf gegen Drogen?

OB Palmer bittet Innenminister Strobl um Aufklärung über die Polizeiarbeit.

19.08.2020

Von ST

Ein Polizist und eine Polizistin auf Streife in der Tübinger Altstadt. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Ein Polizist und eine Polizistin auf Streife in der Tübinger Altstadt. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Tübingen. Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich mit einem Schreiben an Landesinnenminister Thomas Strobl gewandt. Darin bittet er um Aufklärung, welche Erkenntnisse über die Lage im Alten Botanischen Garten in Tübingen vorliegen und ob die Vorwürfe des Racial Profiling zutreffen oder widerlegt werden können.

Anlass sind Rassismus-Vorwürfe gegen die Polizei. Palmer bezieht sich auf einen TAGBLATT-Artikel vom 16. Juli über eine Online-Veranstaltung des Netzwerks gegen Anti-Diskriminierung Reutlingen-Tübingen „adis“. Dort berichtete ein Mitglied der Tübinger Schwarzen Empowermentgruppe Black Visions and Voices, die die Black-Lives-Matter-Kundgebung am 6. Juni organisiert hat. Es wurde als Steve vorgestellt und sprach von Racial Profiling der Polizei. Bei Einsätzen komme es immer wieder zu physischer Gewalt. „Weil im Bota viele schwarze Menschen sind und die Passanten immer wieder Polizeiaktionen beobachten können, glauben sie mittlerweile, dass da kriminelle Sachen passieren“, erklärte Steve. Beamte würden sich gegenseitig decken. Ein anderer sprach auf der Adis-Veranstaltung von einem „System der Unterdrückung“.

Palmer erläutert Strobl, dass sich „im stadtabgewandtem Bereich des Bota nahezu täglich eine Gruppe von etwa zehn Männern schwarzer Hautfarbe“ aufhalte. Der Oberbürgermeister schreibt: „Ich habe selbst vielfach beobachtet, wie Mitglieder dieser Gruppe Drogen verkauft haben. Aus Berichten der Polizei ist mir bekannt, dass dort regelmäßig Drogendepots aufgespürt und Drogenverkäufe angezeigt wurden. Ich ging bisher davon aus, dass diese Kontrollen notwendig, sinnvoll und angemessen sind. Allenfalls hat mich verwundert, dass es auch nach vier Jahren fortgesetzter Kontrollen und Ermittlungen nicht gelungen ist, diese offene Drogenszene in Tübingens wichtigstem Stadtpark unter Kontrolle zu bringen. Denn dieser Teil des Parks wird mittlerweile von anderen Personen kaum noch benutzt.“

Palmer schreibt an den Innenminister: „Sollten meine bisherigen Annahmen über die Notwendigkeit der Kontrollen falsch sein und die Vorwürfe fortgesetzten Racial Profilings zutreffen, würde ich Sie auffordern, dies sofort zu unterbinden. Sollten diese Vorwürfe aber unzutreffend sein, benötigt die Tübinger Öffentlichkeit auch darüber Klarheit.“

Der Brief im Wortlaut:

„Sehr geehrter Herr Minister Strobl,

Racial Profiling ist nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd und den Black Live Matters Demonstrationen auch in Deutschland zu einem wichtigen Thema geworden. Das Netzwerk gegen Anti-Diskriminierung Reutlingen-Tübingen „adis“, hat dazu eine Online-Veranstaltung durchgeführt, über die am 16. Juli im Schwäbischen Tagblatt wie folgt berichtet wurde: „Aus Tübingen stellte Foitzik Steve vor. Er ist Mitglied der Tübinger Schwarzen Empowermentgruppe Black Visions and Voices, die die Black-Lives-Matter-Kundgebung am 6. Juni 2020 in Tübingen organisiert hat. „Schwarz“ ist in diesem Fall kein Adjektiv, sondern als Statement bewusst groß geschrieben. In Tübingen gebe es RP besonders im Alten Botanischen Garten (Bota). Bei Einsätzen der Polizei komme es dort auch immer wieder zu physischer Gewalt. „Weil im Bota viele schwarze Menschen sind und die Passanten immer wieder Polizeiaktionen beobachten können, glauben sie mittlerweile, dass das auch berechtigt wäre, dass da also kriminelle Sachen passieren“, erklärte Steve.

Die Legitimierung der polizeilichen Gewalt funktioniere, indem sich Beamte gegenseitig deckten. Man müsse solche „kriminalitätsbelasteten Orte“ umwidmen und verändern, forderte Naguib. An einem solchen Ort in Bern habe man eine Woche lang für andere gekocht, „der Platz wurde bespielt und die Polizei dadurch zurückgedrängt“. Im Bota, so Steve, gebe es eine breite Öffentlichkeit. Die müsse bei Übergriffen tätig werden und eingreifen. „Wir haben auch Macht“, meinte Wa Baile dazu. Als Aktivisten in der Schweiz Polizisten beim Einsatz filmten, hätten ihnen danach beim Notizenmachen „die Hände gezittert“.

Es sei ein Unterschied, so Naguib zu übergriffigen Kontrollen, „wie das Recht niedergeschrieben ist und wie es angewandt wird.“ Im Zweifelsfall werde immer der Polizei geglaubt. Weiße Menschen, ergänzte Wa Baile, müssten keine Angst bei Kontrollen haben, gegenüber Schwarzen sei „RP ein strukturelles Problem“. Louw sprach von einem „System der Unterdrückung“. Es ging auch darum, dass immer Passanten zuschauten, und das war für mich erniedrigend und würdelos.“

Der in diesem Bericht erwähnte „Bota“ ist der alte botanische Garten in Tübingen. In dessen stadtabgewandtem Bereich befindet sich nahezu täglich eine Gruppe von etwa zehn Männern schwarzer Hautfarbe. Ich habe selbst vielfach beobachtet, wie Mitglieder dieser Gruppe Drogen

verkauft haben. Aus Berichten der Polizei ist mir bekannt, dass dort regelmäßig Drogendepots aufgespürt und Drogenverkäufe angezeigt wurden. Ich ging bisher davon aus, dass diese Kontrollen notwendig, sinnvoll und angemessen sind. Allenfalls hat mich verwundert, dass es auch nach vier Jahren fortgesetzter Kontrollen und Ermittlungen nicht gelungen ist, diese offene Drogenszene in Tübingens wichtigstem Stadtpark unter Kontrolle zu bringen. Denn dieser Teil des Parks wird mittlerweile von anderen Personen kaum noch benutzt, die meisten machen einen Bogen um den Ort. In der Dunkelheit meiden vor allem Frauen den Park.

Die Schilderung von Steve kehrt das ins Gegenteil um und spricht von einem Ort, der kriminalitätsbelastet sei, weil Polizisten sich gegenseitig deckten und zu Unrecht Schwarze mit physischer Gewalt drangsalieren. Eine besonders schlimme Form des Racial Profiling also. Sehr geehrter Herr Innenminister, ich benötige in dieser Sache Klarheit. Sollten meine bisherigen Annahmen über die Notwendigkeit der Kontrollen im Alten Botanischen Garten in Tübingen falsch sein und die Vorwürfe fortgesetzten Racial Profilings zutreffen, würde ich Sie auffordern, dies sofort zu unterbinden. Sollten diese Vorwürfe aber unzutreffend sein, benötigt die Tübinger Öffentlichkeit darüber Klarheit. Andernfalls wäre zu befürchten, dass die Arbeit der örtlichen Polizeikräfte durch Rassismusvorwürfe massiv erschwert und möglicherweise durch Konflikte mit Passanten faktisch unmöglich gemacht wird.

Ich bitte Sie daher um Aufklärung, welche Erkenntnisse dem Innenministerium über die Lage im Alten botanischen Garten in Tübingen vorliegen und ob die Vorwürfe des Racial Profiling zutreffend sind oder widerlegt werden können. Ein „System der Unterdrückung“ darf es in Tübingen nicht geben. Ein so schwerwiegender Vorwurf darf aber auch nicht im Raum stehen bleiben, falls er unzutreffend ist.

Mit freundlichen Grüßen

Boris Palmer

Oberbürgermeister“

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Erstellt:
19.08.2020, 10:34 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 59sec
zuletzt aktualisiert: 19.08.2020, 10:34 Uhr

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