Energiesparen

RP spricht Machtwort: Tübingen muss das Licht nachts einschalten

Das Regierungspräsidium ordnet an: Tübingen muss binnen einer Woche nachts die Straßenbeleuchtung wieder einschalten. OB Palmer findet dafür deutliche Worte.

20.01.2023

Von Moritz Hagemann und Jonas Bleeser

Tübingen muss die Straßenbeleuchtung nachts wieder einschalten. Archivbild: Ulrich Metz

Tübingen muss die Straßenbeleuchtung nachts wieder einschalten. Archivbild: Ulrich Metz

Schon am Mittwoch schickte das Tübinger Regierungspräsidium (RP) ein Einschreiben an das Tübinger Rathaus. Der Tenor des Briefs ist unmissverständlich: Das RP ordnet an, „dass die nächtliche Beleuchtung an Fußgängerüberwegen innerhalb einer Woche nach Zugang der Entscheidung wieder eingeschaltet werden muss“. Das teilt RP-Sprecherin Martina Bitzer dem TAGBLATT mit. Und weil es technisch gar nicht anders geht, muss Tübingen nun die Lichter nachts generell wieder anmachen – und zwar spätestens vom kommenden Wochenende an.

Tübingen und Rottenburg hatten die Aufforderung der Bundesregierung zum Energiesparen an die Kommunen ernst genommen. Sie schalteten deshalb zeitweise nachts die Straßenbeleuchtung großflächig aus. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer teilt in einer städtischen Mitteilung als Reaktion auf die RP-Anordnung mit: „Das Licht machen wir in Tübingen jetzt wieder an.“ Und zwar im Laufe der kommenden Woche.

Die Stadt Rottenburg gab erst am Montag ihre Stellungnahme an das RP ab – eine Antwort der Behörde liege noch nicht vor. Man rechne jedoch mit einer Anordnung, sagt Pressesprecherin Birgit Reinke. „Dennoch warten wir die Reaktion auf unsere Stellungnahme ab.“ Rottenburg werde sich nicht wehren, sollte es zu einer Anordnung kommen.

Auch Palmer beugt sich also – nicht aber, ohne die Entscheidung in scharfen Worten zu kritisieren. Er spricht von einem „Vorschriftengestrüpp“, die Bürokratie gewinne in vielen Rechtsgebieten die Herrschaft über Parlamente: „Unser Land erstickt regelrecht in diesem immer weiter ausufernden Bürokratismus ohne Augenmaß.“

Entscheidung „weltfremd“

Er wisse nicht, wie er vor dem Hintergrund dieser Entscheidung der Bevölkerung noch Einschnitte wie das Frieren in Büros und Hallenbädern erklären solle, so Palmer. Die Wirklichkeit spiele in der Entscheidung keine Rolle, die reine Vorschrift werde dem sinnvollen Energiesparen vorgezogen. Palmer nennt die Entscheidung „weltfremd“, vor allem, da die Straßenverkehrsordnung der Stadt erlauben würde, die Fußgängerübergänge in 30er-Zonen einfach abzubauen. Doch sie bleiben, sagt Palmer auf Nachfrage, „bei Tag sind die ja wünschenswert“.

Tübingens Oberbürgermeister, dessen Mitgliedschaft bei den Grünen ruht, hatte bereits am 10. Januar einen Brief an den Regierungspräsidenten Klaus Tappeser (CDU) geschickt und seine Sicht der Dinge dargelegt (wir berichteten). Palmer stellte darin in Frage, ob Tübingen eine Pflicht zur dauerhaften Beleuchtung der Zebrastreifen habe. Zudem hielt er das RP in dieser Sache nicht für weisungsbefugt, da die Kommunen dies selbst entscheiden könnten.

Kein Gang vor das Gericht

Das RP folgt Palmers Auffassung nicht, wonach es keine Weisungsbefugnis und die Stadt keine Pflicht zur Beleuchtung von Fußgängerübergängen habe. Als übergeordnete Straßenverkehrsbehörde könne das RP die Einschaltung gemäß Paragraph 122 der Gemeindeordnung anordnen, argumentiert Bitzer auf Nachfrage. Zudem müsse sich die Stadt als untere Straßenverkehrsbehörde an das vom Bund geregelte Straßenverkehrsrecht halten, woraus sich eine Pflicht der Beleuchtung der Zebrastreifen ergebe.

Das RP lasse „die entscheidende Frage“, so Palmer, außen vor: Ist die Energieersparnis derzeit nicht wichtiger als eine Vorschrift? Schließlich hatte Palmer bereits dargelegt, dass die Stadt pro Nacht durch die Abschaltung den Jahresstromverbrauch eines Vier-Personen-Haushaltes einspare. Das TAGBLATT stellte dem RP die Frage der Abwägung zwischen Sicherheitsaspekten und dem Energiesparen. Bitzers Antwort: „Für eine derartige Abwägung durch die Stadt Tübingen lässt die geltende Rechtslage keinen Raum.“ Hier sei nach der Devise „Vorschrift ist Vorschrift, und wenn die Welt daran zugrunde geht“ entschieden worden, beklagt Palmer.

Auf Rechtsmittel, also den möglichen Gang vor das Verwaltungsgericht, will Palmer verzichten. „An den entscheidenden Stellen fehlt der Weisung zwar die Begründung, so dass sie auch rechtlich angreifbar ist, aber diese Fragen sollten nicht Gerichte klären“, sagt er. Stattdessen sendet er einmal mehr – siehe Infobox – eine Botschaft nach Stuttgart und Berlin, der Gesetzgeber sei gefragt: „Die Parlamente müssen dafür sorgen, dass in Deutschland nicht ein Bürokrat als Letzter das Licht ausmacht.“

Die Vorgeschichte

Bereits Ende Oktober hatte die Stadt Tübingen angekündigt, die Lichter nachts auszuschalten. Nun sind seit einiger Zeit an vier Nächten in der Woche alle Lichter zwischen 1 und 5 Uhr aus, an Ausgeh-Tagen von 3 bis 5 Uhr – mit lokalen Ausnahmen. Ende November wandte sich OB Palmer in einem offenen Brief an die Stadtgesellschaft und verteidigte seine Linie – zuvor hatten mehrere Fraktionen Kritik geübt. Das Landesverkehrsministerium hatte Tübingen – und auch Rottenburg – im Anschluss darauf hingewiesen, dass Fußübergänge gemäß der Straßenverkehrsordnung nachts beleuchtet sein müssen. Palmer suchte durch einen Brief an Wirtschaftsminister Robert Habeck Schützenhilfe und forderte eine klare Aussage der Bundesregierung – vergebens. Beide Städte wurden vom Regierungspräsidium gebeten, Stellung zu nehmen und ihre Rechtsauffassung darzulegen. Zumindest im Tübinger Fall ist das Ergebnis nun bekannt.