Identitätspolitik

PolitikerInnen, Politiker*innen, Politiker_innen, Politiker:Innen

Dass Menschen, die sich nicht gleichberechtigt fühlen, um ihre Gleichberechtigung kämpfen, halten die meisten für legitim. Problematisch wird es, wenn Minderheiten der Mehrheit Regeln aufzwingen wollen. Etwa in der Sprache.

12.03.2021

Von ANDRé BOCHOW

Der Duden steht beim Thema Gendersprache zwischen den Fronten. Foto: Tim Brakemeier/picture alliance/dpa

Der Duden steht beim Thema Gendersprache zwischen den Fronten. Foto: Tim Brakemeier/picture alliance/dpa

Berlin. Gendern in der Sprache, Gleichstellung von Lesben, Schwulen, bi- und asexuellen Menschen – es gibt Debatten, die jahrzehntelang in ausgewählten Zirkeln geführt werden, und plötzlich, ganz unerwartet, erreichen sie eine breite Öffentlichkeit. Genau das passiert gerade mit der Diskussion über die Identitätspolitik. Die allgemeine Aufmerksamkeit hat das Thema der SPD, genauer ihrer Vorsitzenden Saskia Esken und dem Jungstar Kevin Kühnert zu verdanken. Die beiden schämten sich öffentlich für Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Was war passiert?

Thierse hatte in einem Aufsatz gefragt: „Wieviel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?“ Identitätspolitik? Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert sie als „Ausrichtung politischen Handelns an Interessen von Menschen, die anhand von Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Herkunft oder sexuelle Orientierung zu einer Gruppe zusammengefasst werden.“ Menschen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Geschlechts als nicht gleichberechtigt sehen und ethnische Bevölkerungsgruppen kämpfen um Teilhabe, Anerkennung und Akzeptanz. Manchmal mit ungeahnten Folgen.

In Großbritannien und in den USA etwa tobt ein Kampf in den Altertumswissenschaften. In Princeton hat ein Experte für römische Geschichte festgestellt, er könne als Immigrant und Schwarzer die Situation der Sklaven in der Antike besser erschließen als seine weißen Kollegen. Der Heidelberger Philologieprofessor Jonas Grethlein verweist sarkastisch auf das Werk einer Kollegin, die über Sklaven in der antiken Komödie geschrieben habe, „ohne selbst je Sklavin gewesen zu sein“. Ebenfalls in den USA machte die Poetin Amanda Gorman von sich reden als sie bei der Einführung des neuen Präsidenten, Joe Biden, „The Hill We Climb“ vortrug. In dem Gedicht ist nicht zuletzt davon die Rede, das Trennende zu überwinden. In Europa klappt das nicht so gut. In den Niederlanden hat die von Gorman ausgewählte Übersetzerin hingeworfen. Sie sah sich einem von schwarzen Aktivisten ausgelösten Shitstorm ausgesetzt. Grund für den digitalen Wutanfall: Die Übersetzerin ist weiß. Die Übertragung ins Katalanische war schon abgeschlossen, als dem Übersetzer der Auftrag entzogen wurde. Er habe nicht ins Profil gepasst. In Deutschland versuchte der Verlag Hoffmann & Campe, Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Er setzte ein Trio an das Gedicht, mit nur einer ausgewiesenen literarischen Übersetzerin.

Neben der linken gibt es die rechte Identitätspolitik. Hier steht die Überhöhung der Nation im Mittelpunkt. Wolfgang Thierse verurteilt diese auf Ab- und Ausgrenzung gerichtete, oft hasserfüllte rechte Politik, will aber „Heimat und Patriotismus, Nationalkultur und Kulturnation nicht den Rechten überlassen“. Denn der Sozialdemokrat sucht die Gemeinsamkeit in der Gesellschaft und verlangt deswegen auch von Linken die Suche nach dieser Gemeinsamkeit. Dazu gehöre, zu akzeptieren, dass „auch Mehrheiten berechtigte kulturelle Ansprüche haben und diese nicht als bloß konservativ oder reaktionär oder gar als rassistisch denunziert werden sollten“. Und Thierse klagt die sogenannte „Cancel Culture“ an, in der „Menschen, die andere, abweichende Ansichten haben und die eine andere als die verordnete Sprache benutzen, aus dem offenen Diskurs in den Medien oder in der Universität“ ausgeschlossen werden. Jetzt hat Thierse selbst erfahren, wie sich Cancel Culture anfühlt.

Anderseits: Die Debatte ist keineswegs neu und manche glauben, der Wind habe sich längst gedreht. Schon vor zwei Jahre sprach die Professorin für Politische Soziologie, Silke van Dyk, von einer „Großen Koalition gegen die Identitätspolitik“. Ihrer Ansicht nach wird dem linken Lager vorgeworfen, das Erstarken der rechten Identitätspolitik erst möglich gemacht zu habe. Etwas frei interpretiert: Weil Schwule, Lesben, Queere, ethnische Minderheiten und Frauen so lautstark waren, ist so etwas wie eine Trump-Präsidentschaft möglich geworden. Van Dyk setzte sich 2019 auch schon mit den Argumenten gegen linke Identitätspolitik auseinander, die jetzt von Wolfgang Thierse und anderen vorgebracht werden: Der Vorwurf der Spaltung zum Beispiel oder der Vorwurf der Ablenkung vom Wesentlichen, etwa wenn in der Sprache Geschlechtergerechtigkeit geschaffen werden soll, während sie im wirklichen Leben fehlt.

Das „dritte Geschlecht“

Tatsächlich tobt der identitätspolitische Kampf zum großen Teil in der Sprache. In Deutschland fiel der Startschuss durch die unter anderem von Luise F. Pusch 1989 formulierten „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs“ für eine erbitterte, manchmal amüsante und auch hämische Debatte über die richtige Bezeichnung der Geschlechter. Dabei geht es zunächst einmal um Frau und Mann. Ob Sternchen oder Doppelpunkt, das sogenannte „dritte Geschlecht“, das wiederum in viele Untergruppen zerfällt, muss man sich irgendwie mitdenken. Regeln gibt es ohnehin keine. Eine „Sprachpolizei“, die die Deutschen zu Gender-Zeichen zwingt oder dazu, „Spazierende“ zu sagen, auch nicht. Und doch ist das „Gendern“ in Beispiel dafür, dass Identitätspolitik eine gewisse Durchsetzungskraft hat. In ARD und ZDF werden immer öfter die „Zuschauer*innen“ begrüßt. Und das freut nicht jeden. Und auch nicht jede.

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Erstellt:
12.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 27sec
zuletzt aktualisiert: 12.03.2021, 06:00 Uhr

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