Tarifstreit: Nicht selbst krank werden

Pflegekräfte streikten für besseren Personalschlüssel und mehr Dienstplansicherheit

Auf dem Platz vor dem Casino Schnarrenberg wehten die Fahnen der Gewerkschaft Verdi, das Streikkomitee verteilte Trillerpfeifen, Ohrenstöpsel, Westen und Stirnbänder. Über den Platz schallten Lieder von Mikis Theodorakis aus den 70er-Jahren über Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Gestern streikten am Tübinger Universitätsklinikum die Pflegekräfte für einen besseren Personalschlüssel und mehr Dienstplansicherheit.

25.01.2018

Von Andrea Bachmann

Streik am Tübinger Universitätsklinikum
© Video: Kolb 03:45 min
Streik der Pflegekräfte am Tübinger Universitätsklinikum.

„Bei uns sind drei Leute krank und die drei, die frei haben, arbeiten“, meinte eine Stationsleiterin aus der Kinderklinik und eine Pflegerin ergänzte: „Wenn man wie ich als 100-Prozent-Kraft arbeitet und dann ständig als Krankheitsvertretung einspringt, hat man irgendwann überhaupt keine freien Tage mehr. Und die braucht man einfach. Ich habe noch 40 Arbeitsjahre vor mir. Wenn ich so weiter arbeite wie bisher, schaffe ich das nie.“ Die Arbeitsüberlastung hätte zur Folge, dass viele Pflegekräfte ihre Arbeitszeit reduzieren würden – und damit Armut im Alter in Kauf nähmen.

Eine Krankenpflegerin von der neurochirurgischen Intensivstation konnte der Zusage der Arbeitgeber, in den vier Universitäts-Klinika des Landes insgesamt 120 neue Stellen für Pflegende zu schaffen, nur wenig abgewinnen. „30 Stellen zusätzlich sind ein Witz! Das sind keine Zahlen, mit denen wir rechnen können! Da geht es nicht nur um uns, sondern auch um die Sicherheit der Patientinnen. Es ist unendlich frustrierend, wenn man in diesem Beruf, den man eigentlich mit Herz und Seele ausüben sollte, niemandem mehr gerecht wird, weil man für nichts mehr Zeit hat.“

Angela Hauser, die Personalratsvorsitzende am Klinikum, begrüßte die Anwesenden, zu denen auch die beiden Bundestagsabgeordneten Chris Kühn von den Grünen und Heike Hänsel von den Linken gehörten. Dann zählte sie auf, wie viele Pflegekräfte von welchen Stationen gekommen waren, um ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Zwei Stationen waren wegen des Streiks ganz geschlossen worden.

Michael Bamberg, Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Tübingen, hatte den Streik für unverhältnismäßig erklärt. Die Arbeitsniederlegung würde nur zu Lasten der Patienten gehen. „Wir stehen da schon unter einem ethischen Druck“, räumte die Stationsleiterin aus der Kinderklinik ein. „Aber wir streiken ja nicht nur für uns, sondern auch für unsere Patienten, die unter dem Personalmangel ebenfalls leiden.“ Die meisten Patienten und Angehörigen hätten Verständnis und Solidarität gezeigt.

Benjamin Stein, Geschäftsführer bei Verdi für den Bezirk Fils-Neckar-Alb bei Verdi, konnte im Gegensatz zur Klinikleitung weder Unbesonnenheit noch Maßlosigkeit im Streik erkennen. „Wir führen seit sechs Monaten Gespräche, das Thema liegt seit acht Jahren auf dem Tisch und in drei Verhandlungsrunden hat sich die Arbeitgeberseite höchstens ein paar Millimeter vorwärts bewegt. Die Arbeitsbedingungen müssen so verändert werden, dass die Mitarbeiter tatsächlich bis zur Rente arbeitsfähig bleiben können.“ Versuche, mit sogenannten Libero- oder Standby-Diensten die Personalknappheit in den Griff zu bekommen, würden nur von der Arbeitnehmerseite maximale Flexibilität erwarten.

„Keine Nacht alleine!“, forderte Hauser. Es können nicht angehen, dass in den Nachtdiensten einfach zwei Stationen zusammengelegt würden, für die dann insgesamt zwei Pflegekräfte zuständig seien. Es seien immer wieder Verbesserungen versprochen worden. „Aber die Stellen wurden seit Jahren nicht ausgeschrieben!“

Klinikseelsorgerin Beate Schröder vom Bündnis für mehr Personal an Krankenhäusern machte den Streik zur Sache aller potenziellen Patientinnen und Patienten: letztendlich ginge es auch um deren Wohl. Heike Hänsel pflichtete ihr bei: Man brauche mindestens 100000 zusätzliche Pflegefachkräfte in Deutschland. Auch alle weiteren Rednerinnen und Redner unterstrichen die Bedeutung eines besseren Personalschlüssels. „Pflege muss endlich einen größeren Stellenwert bekommen“, meinte Chris Kühn.

Hauser war mit der Veranstaltung zufrieden. Auch die Notdienstverordnung sei ziemlich korrekt eingehalten worden. Heute geht es mit Verhandlungen in Stuttgart weiter.

Michael Bamberg zum Pflege-Tarifkonflikt
© Video: Schweizer 06:57 min
Prof. Dr. Michael Bamberg, ärztlicher Direktor des Tübinger Uni-Klinikums, zum Pflege-Tarifkonflikt.

„Mehr von uns ist besser für alle“

In den Tarifverhandlungen an den vier Universitäts-Klinika in Tübingen, Heidelberg, Freiburg und Ulm geht es in erster Linie um einen besseren Personalschlüssel mit einer Mindestpersonalbesetzung und einem Konsequenzmanagement. Eine Pflegekraft sollte nicht mehr als sieben Patienten gleichzeitig betreuen müssen. Wenn dieser Personalschlüssel unterschritten wird, soll es möglich sein, eventuell sogar Betten zu schließen. Außerdem fordert Verdi eine Dienstplansicherheit. Die Pflegekräfte sollen sich darauf verlassen können, dass Dienstpläne eingehalten werden und MitarbeiterInnen nicht dauernd einspringen müssen, weil jemand ausfällt oder frei nehmen müssen, weil gerade weniger zu tun ist.

Dazu braucht das Tübinger Klinikum nach Aussage der Gewerkschaft Verdi 154 zusätzliche Stellen.

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Erstellt:
25.01.2018, 22:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 02sec
zuletzt aktualisiert: 25.01.2018, 22:00 Uhr

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