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Party in Strömen

Clubsterben, Nachtruhe, abwanderndes Feiervolk: Warum ein attraktives Nachtleben eine Bereicherung für die gesamte Innenstadt ist. Ein historischer Abriss der Partyszene in Reutlingen und Tübingen.

05.03.2021

Von TEXT: Lorenzo Zimmer und Hannah Möller GRAFIK: Uhland2/Eck FOTO: freepik.com

Party in Strömen

Schon die großen Brüder hatten es vorgemacht: Wer als Tübinger in den 90er-Jahren feiern gehen wollte, fuhr nach Reutlingen. So entwickelten sich die dortige Färberei, später der M-Park und viele weitere Locations zu Sehnsuchtsorten der feierwütigen Tübinger. Als das Nachtleben in der Unistadt Anfang der 2000er-Jahre auch durch die anhaltende Abwanderung der jungen Leute nach Reutlingen fast vollständig zum Erliegen kam und Partygäste in Scharen in den Zug stiegen, schien für die Ewigkeit festgelegt zu sein, dass Tübingens Nachtleben das eines verschlafenen Nests sein würde und das Reutlinger Nachtleben für immer eher an das einer Großstadt erinnern würde.

Zoo, Foyer und das Cinderella mit Partys wie 42 Grad Fieber und der legendären Mark-Nacht waren Tübinger Geschichte und auch die Kneipenkultur litt unter der Abwanderung der Partygäste: In Reutlingen florierten zu dieser Zeit die Cocktailbars und auch die Geschäfte. Solche, etwa auf Kleidung für junge Leute spezialisiert, spürten deutlich, dass sich die Reutlinger Partyszene großer Beliebtheit erfreute: Junge Menschen kamen nachmittags nach der Schule oder den Vorlesungen am Vormittag in die Stadt, kauften ein, bevölkerten die Restaurants und Bars, zu späterer Stunde dann die Clubs.

Mittlerweile profitiert Reutlingen von diesem Tages-, Abend- und Nachttourismus aus Tübingen nicht mehr. Denn nach der Berührung mit der absoluten Nulllinie zu Beginn der 2000er ist das Tübinger Nachtleben aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Mit der Eröffnung des Top10 im Jahr 2008 begann eine Wende, die auch kein Ende fand, als weitere vier Jahre später das legendäre Zentrum Zoo aufgab. Wenige Jahre nach dem Top10 eröffneten auch das Schwarze Schaf und die Butterbrezel. Weitere Clubs und Tanzkneipen wurden immer beliebter – etwa das Collegium, das als Studierendenkneipe seit vielen Jahrzehnten besteht, in den letzten 15 Jahren aber zur echten In-Kneipe wurde. Die Mühlstraße entwickelte sich des Nachts immer mehr zur Fress- und Barmeile, das Nachtleben war endgültig zurückgekehrt. Und der deutlich wahrnehmbare Rückgang an Locations und Möglichkeiten, mal ungezwungen feiern zu gehen, sucht nun Reutlingen heim.

Denn in der Achalmstadt setzte zur Jahrhundertwende ein allmähliches Clubsterben ein: Das legendäre Black Mustang machte im 2004 den Anfang, bis 2020 auch die letzte Großraumdisco in Reutlingen geschlossen wurde. Nach 35 Jahren Party gehört die Area 14, vormals M-Park, der Geschichte an. Aus der Färberei 4 auf dem Wendler-Areal schallen schon seit 2011 keine Klänge mehr.

Es ist still geworden in der kleinsten Großstadt Baden-Württembergs. Vielleicht auch zu ruhig – denn wenn eine Innenstadt kaum mehr ein Nachtleben zu bieten hat, verliert sie ihre Attraktivität für junge Menschen. Diese gehen dann nicht nur zum Feiern nach Stuttgart oder Tübingen, sondern ziehen womöglich ganz weg. Und werden in attraktiveren Städten ansässig, um dort Familien zu gründen. Das hat wiederum enorme Auswirkungen auf eine lebendige Innenstadt, den Handel und die Gastronomie.

Was ist passiert, dass Reutlingens Nachtleben so verschlafen daher kommt? Viele Gastronomen und Clubbetreiber schieben der Stadtverwaltung die Schuld in die Schuhe. Sie sei in den vergangenen zehn Jahren zu restriktiv vorgegangen, als es mehrfach zu Konflikten um die Nachtruhe in der Innenstadt kam. Die berüchtigte Partymeile in der „Schinkenstraße“, auch geläufig unter dem Namen Oberamteistraße, hat einst junge Leute aus Tübingen angezogen. Am Heiligmorgen verwandelt sich die Meile in das Epizentrum des Weihnachtsvorglühens.

Mittlerweile haben dort ein „Teelädle“ und Cafés aufgemacht. Eine Bürgerinitiative hatte ebenfalls dazu beigetragen, dass Clubs und Bars verdrängt wurden. Mit dem Ergebnis, dass es heute zu wenig junge, innovative Gastronomen in der Stadt gibt. Genau das macht aber den Charme einer Stadt aus – die Bars, die Geschäfte, selbst Parties gehören zu einer florierenden, attraktiven Innenstadt dazu. Reutlingen hat es bisher versäumt, ein stimmiges Konzept für die Aktivierung des Nachtlebens vorzulegen. So war die Idee einen Nachtbürgermeister anzustellen – in einer Stadt ohne Nachtleben, ein gefundenes Fressen für den Tübinger Comedian Helge Thun: „Doch wird‘s in Reutlingen wohl aussehen wie in seinen Kasernen. Die einzigen, die nachts noch ausgehen, das sind die Laternen.“

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Erstellt:
05.03.2021, 07:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 05.03.2021, 07:30 Uhr

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