Rottenburg · Spendenaufruf

Paragraphen wissen nichts von der Lust auf Leben

Die Rottenburgerin Anja Siegle will ein Auto so umbauen lassen, dass sie ihre schwerbehinderte Tochter Jasmin im Rollstuhl mitnehmen kann. Die Behörden halten das nicht für unterstützenswert. Sie schreiben, Jasmin soll Bus und Bahn benutzen.

31.12.2019

Von Angelika Bachmann

Startklar: Anja (links) und Jasmin Siegle (im Rollstuhl) mit Roswitha Birkle – vom Haus der Siegles im Rottenburger Kreuzerfeld aus sind die Felder gut zu erreichen. Für andere Ziele, etwa auf der Alb, und für den Besuch bei Freunden ist die Familie auf den Caddy angewiesen, der aber mittlerweile für den großen Rollstuhl von Jasmin zu klein ist.  Bild: Angelika Bachmann

Startklar: Anja (links) und Jasmin Siegle (im Rollstuhl) mit Roswitha Birkle – vom Haus der Siegles im Rottenburger Kreuzerfeld aus sind die Felder gut zu erreichen. Für andere Ziele, etwa auf der Alb, und für den Besuch bei Freunden ist die Familie auf den Caddy angewiesen, der aber mittlerweile für den großen Rollstuhl von Jasmin zu klein ist. Bild: Angelika Bachmann

An diesem Winternachmittag tasten sich die Strahlen der niedrigstehenden Sonne vorsichtig über die Felder beim Kreuzerfeld. Die Luft ist klar, verlockendes Wetter für einen Spaziergang. Anja Siegle und Roswitha Birkle packen Jasmin in ihrer Winterjacke und einem kuscheligen Überwurf warm ein: Die 20-Jährige strahlt. Wie immer, wenn es raus geht. Vielleicht begegnet sie anderen Spaziergängern, vielleicht haben die sogar Hunde dabei? Vögel werden sie sicher hören. Denn auch wenn Jasmin – ihre Familie und Freunde nennen sie Mini – selbst nur wenige Worte sprechen kann, wenn sie nicht sagen kann, wie sehr es ihr gefällt, draußen zu sein, Menschen und Tieren zu begegnen, so sprechen doch ihr Gesicht und ihre Augen für sie.

„Jasmin hat so eine Lust auf Leben“, sagt ihre Mutter Anja Siegle. „Jasmin ist charmant und sehr unternehmungslustig. Und sie hat viel Humor. Das ist ihre Stärke.“ Jasmin ist seit Geburt schwer behindert. Sie kam in der 38. Woche mit einem Not-Kaiserschnitt zur Welt. Ihr Herz hatte schon aufgehört zu schlagen, die Ärzte reanimierten sie. Ihr Gehirn hatte durch den Sauerstoffmangel offensichtlich schon tiefgreifende Schäden erlitten. Auch litt sie in den erste Tagen nach der Geburt an Krampfanfällen. Doch nach dem zweiten Tag stabilisierte sich ihr Zustand. „Von da an wollte sie leben“, sagt Anja Siegle.

Im Wasser lässt sie los

Für sie, ihren Sohn Florian (er ist zwei Jahre älter als Jasmin) und ihren damaligen Ehemann bedeutete es, sich und ihr Familienleben völlig neu justieren zu müssen. Denn im Laufe der Monate und Jahre stellte sich heraus, wie schwer die Schädigungen im Gehirn von Jasmin waren, wie Entwicklungsschritte, die gleichaltrige Babys machten, bei Jasmin ausblieben: greifen, sich drehen, krabbeln, sitzen, stehen gehen, reden – all das kann Jasmin bis heute nicht.

Mit unermüdlicher Energie und Hilfe meistert die Familie ihr Leben. Tagsüber ist Jasmin in der KBF-Schule. „Das bringt Entlastung für den Alltag“, sagt Anja Siegle. Dort hat Jasmin auch Freundinnen und Freunde gefunden. 40 Stunden im Monat kommt Roswitha Birkle zu den Siegles. Seit 12 Jahren hilft sie bei der Betreuung von Jasmin.

„Und an den Wochenenden sind wir viel unterwegs.“ Sie fahren gerne auf die Alb und gehen dort spazieren, oder auf den Kastanienhof, wo es Tiere gibt. Aber auch Ausstellungen und Konzerte mag Jasmin: „Mit ihr kann man alles unternehmen“, sagt Anja Siegle: Staatsgalerie Stuttgart oder Kunsthalle Tübingen. Und Jasmin liebt es, zu schwimmen. Wenn ihr Körper, gehalten von Schwimmhilfen, im warmen Wasser schwerelos wird – „da lässt sie los“.

Mittlerweile ist Jasmin fast erwachsen. So groß wie eine junge Frau, 50 Kilogramm schwer. Ihr Körper wird von einem speziellen Rollstuhl samt Gurt und Polsterung aufrecht gehalten, damit sie nicht nach unten wegrutscht. Als Jasmin ein Kind war, konnte ihre Mutter sie vom Rollstuhl ins Auto umsetzen. Diese Zeiten sind längst vorbei. Bereits vor zehn Jahren hat Anja Siegle deshalb einen VW Caddy behindertengerecht umbauen lassen, damit sie Jasmin samt Rollstuhl ins Auto schieben kann.

Nach zehn Jahren ist der Caddy jetzt aber fast am Ende, immer häufiger reparaturbedürftig – und außerdem zu klein. Denn in dem Maße, wie Jasmin gewachsen ist, wurde auch der Spezial-Rollstuhl größer, der ohnehin einen sehr langen Radstand hat. Er passt jetzt nur noch ins Auto, wenn die Rückbank nach vorne geklappt wird und Anja Siegle die Griffe für den elektrischen Rolli-Antrieb abmontiert. Seit fünf Jahren ist Anja Siegle alleinerziehend. Sie arbeitet Teilzeit als Krankenpflegerin am Klinikum und der Blick auf den Kontostand zeigt ihr, dass bereits die Finanzierung eines neuen Autos sie an die Grenzen bringt. Darüber hinaus aber noch 6000 Euro für den behindertengerechten Umbau für den Rolli zu bezahlen, kann sie sich nicht leisten.

Alle reden heutzutage über Teilhabe und Inklusion. In der Praxis zerschellen allerdings viele Anträge und Bedürfnisse von Behinderten und ihren Familien an behördlichen Abwehrwällen aus Paragraphen. Und im Grunde befürchtete Anja Siegle ja schon, dass sie ein Ablehnungsschreiben kassieren würde, als sie sich an das Tübinger Landratsamt wandte und beantragte, die Kosten für den behindertengerechten Umbau eines Autos zu übernehmen. Sie verwies dabei auf das gesetzlich festgeschriebene Anrecht zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben.

„Teilhabe am Arbeitsleben“ – da lächelt Anja Siegle nur milde, weil das für Jasmin unerreichbar bleibt. Aber Teilhabe am Leben – das ist etwas, wofür ihre ganze Familie seit 20 Jahren steht. Von diesen gemeinsamen Erlebnissen erzählt Anja Siegle mit Freude. Schwierige Tage, die gibt es auch: Tage, an denen man denkt, dass man einfach nicht mehr kann. Vielleicht sind diese schlimmen Tage auch nur deshalb auszuhalten, weil Familie Siegle gelernt hat, sich die guten Momente zu holen und zu genießen: beim Pferdebeobachten auf der Alb, beim Schweben im Badkap-Becken, beim Elefantentröten und Eisessen in der Wilhelma. Und viele dieser Momente, weiß Siegle, sind für sie und Mini nur mit dem Auto erreichbar.

Teilhabe am Leben auf Behördendeutsch hört sich so an: „Ihren Ausführungen ist nicht zu entnehmen, dass Ihre Tochter Jasmin zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ständig auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist.“ Die etwa für Einkaufen und Ausflüge „erforderliche Mobilität lässt sicht auch auf andere Weise sicherstellen“, so schreibt die Sachbearbeiterin des Landratsamtes und verweist darauf, dass die Siegles für ihre Fahrten Bus oder Bahn benutzen sollen.

Bei Bahn Hilfsbedarf anmelden

Auch bei widrigen Witterungsverhältnissen sei das zumutbar – auch Nichtbehinderte müssten sich schließlich durch entsprechende Kleidung darauf einstellen. Bei Zugverbindungen mit nicht behindertengerechten Wagen könne „über die Mobilitätsservice-Zentrale der Deutschen Bahn ein Hilfsbedarf vorzeitig angemeldet werden“. Die damit verbundene „gewisse Vorbereitung und Planung“ sei der Familie zuzumuten.

Zahlreiche Paragraphen aus der Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV) und dem Sozialgesetzbuch (SGB) werden in dem Schreiben von Amts wegen herangezogen, um die Zahlung der 6000 Euro abzulehnen. Würde Jasmin in einem Behindertenwohnheim leben, würde das monatlich etwa diesen Betrag kosten, der anstandslos übernommen würde.

Es wäre nun möglich, gegen diesen Ablehnungsbescheid vorzugehen und den Rechtsweg zu beschreiten. Dann, sagt Anja Siegle, müsste sie aber mit dem Kauf des neuen Autos warten, bis die letzte Entscheidung gefallen ist – sonst würde sie den Anspruch auf die Kostenübernahme verwirken. Das kann Jahre dauern, weiß Siegle. Und so lange will sie nicht warten.

Sie hat sich deshalb an verschiedene Stiftungen gewandt und von diesen bereits Unterstützung in Aussicht gestellt bekommen, die die Umbaukosten aber nicht abdecken. Vor zehn Jahren haben TAGBLATT-Leser schon einmal einen beträchtlichen Beitrag für den Umbau des ersten Caddys gespendet, für „ein Stück Normalität im Alltag“, wie wir damals geschrieben haben. Der Verein „Mobil mit Behinderung“ hatte damals ein Spendenkonto eingerichtet – sowie jetzt wieder. Wer die Familie Siegle unterstützen möchte, kann das über dieses Spendenkonto tun.

Der Verein „Mobil mit Behinderung“ hat für die Finanzierung des Caddy-Umbaus ein kostenloses Spendenkonto für Anja und Jasmin Siegle eingerichtet: Mobil mit Behinderung

VR Bank Südpfalz e G, Iban:

DE 27 548625000207138580

Stichwort: „Jasmin“ . Wer an dieses Konto spendet, kann auch eine Spendenbescheinigung erhalten.

Zum Artikel

Erstellt:
31.12.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 43sec
zuletzt aktualisiert: 31.12.2019, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!