Papier von der Wiese

Eine traditionelle Druckerei in Stuttgart geht neue Wege. Für das Papier, mit dem sie arbeitet, müssen keine Bäume in Brasilien gefällt werden. Es wird umweltschonend aus Grasfasern hergestellt.

07.10.2019

Von TEXT: Johannes Schweikle|FOTOS: Erich Sommer

Papier von der Wiese
Vor drei Jahren kam Matthias Durst in eine Lebenskrise. „Eine komplette Lebenskrise“, sagt er und beschreibt, wie er sich fühlte, als es auf die Fünfzig zuging: „Wozu stehst du eigentlich jeden Morgen auf? Du wurstelst rum – das kann’s doch nicht gewesen sein. Du brauchst etwas, womit du die Menschen begeistern kannst.“

Inzwischen ist Durst 50 Jahre alt. Ein drahtiger Mann mit schmalem Gesicht und dunkelblondem Dreitagebart. Als Geschäftsführer leitet er die Druckerei Kurz und Co. in Stuttgart, einen Familienbetrieb in der vierten Generation, gegründet 1905. Die Firma beschäftigt 20 Mitarbeiter. Die Räume in der Nähe des Neckartors sind eng, verschiedene Maschinen sorgen für einen konstanten Lärmpegel. Auf einer wird gerade der neue Haushalt der Landeshauptstadt gedruckt – auf herkömmlichem weißem Papier. Aus dem Klebebinder kommt die Gebrauchsanweisung für ein Gerät von Bosch – auch sie wurde auf Papier gedruckt, das wie üblich aus Holzzellstoff hergestellt wurde.

Neben dem schmalen Aufzug lagert eine Palette Karton. Das ist der Stoff, der Matthias Durst aus der Krise geführt hat. Für dieses Papier mussten keine Bäume in Brasilien gefällt werden. Es wurde aus einem Rohstoff hergestellt, der bei uns in Hülle und Fülle wächst: Gras von heimischen Wiesen. Das Graspapier sieht ziemlich öko aus: sandfarben, mit bräunlichen Partikeln gesprenkelt. Es duftet leicht nach Heu und ist etwa 30 Prozent teurer als weißes Papier aus herkömmlichem Holzzellstoff.

Botschafter mit Kamera: Mit Videos in sozialen Netzwerken wirbt Matthias Durst für Graspapier.

Botschafter mit Kamera: Mit Videos in sozialen Netzwerken wirbt Matthias Durst für Graspapier.

Im April 2018 gründete Durst ein Start-up und sicherte sich die entsprechende Adresse im Internet: www.diegrasdruckerei.de. Inzwischen trägt der Grasdruck 20 Prozent zum Umsatz des Familienunternehmens bei. Die Spanne der Produkte ist groß: Visitenkarten, ein Gedichtband, eine Broschüre des Umweltministeriums Baden-Württemberg zur Artenvielfalt. Auch zwei sehr große Industrieunternehmen aus Stuttgart lassen auf Graspapier drucken. Durst bedauert, dass er ihre Namen nicht nennen darf. Möglicherweise fürchten die Firmen höhnische Kommentare: Das ökologisch korrekte Papier passt nicht zu den Produkten, die sie herstellen.

Wozu braucht es überhaupt Graspapier? Reicht es nicht, wenn wir Recyclingpapier verwenden? „Beim Recycling werden die Zellstofffasern kürzer“, erklärt Durst, „wir brauchen aber lange Fasern im Papier. Deshalb wird frischer Holzzellstoff dem Altpapier zugesetzt.“ Dieser Rohstoff ist ökologisch problematisch: Ein Drittel des in Deutschland verwendeten Zellstoffs wird aus brasilianischen Wäldern importiert. Es braucht 6000 Liter Wasser, um eine Tonne Holzzellstoff herzustellen. Mit Chemikalien wird das Lignin ausgekocht. Dagegen kommt die Papierherstellung aus Grasfasern ohne Chemikalien aus. Und für eine Tonne braucht man lediglich zwei Liter Wasser. Der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid wird um 75 Prozent gesenkt. Graspapier braucht auch keine Gelatine als Bindemittel – es ist ein veganes Produkt.

Grasfasern haben eine lange Geschichte in der Papierherstellung. Im alten Ägypten und in der Antike wurde auf Blättern geschrieben, die aus Papyrusgras hergestellt wurden. Die Gutenberg-Bibel wurde auf Hanfpapier gedruckt. „Das ist auch gut so“, sagt Matthias Durst, „dieser Zellstoff hält sich länger. Hätte Gutenberg auf Holzpapier gedruckt, wäre seine Bibel schon längst zerfallen.“ Erst ab dem 19. Jahrhundert verdrängte Holz alle anderen Rohstoffe in der Papierindustrie. In den 1990er-Jahren gab es einen kurzen Hype um Hanfpapier. Vor acht Jahren experimentierte Uwe D’Agnone in Nordrhein-Westfalen mit Graspellets und ließ sich das Papier aus diesem Rohstoff patentieren. Inzwischen stellen rund 20 Fabriken in Deutschland Graspapier her. Bis zu 50 Prozent besteht es aus Grasfasern, der Rest ist Recyclingpapier.

Der Markt für dieses Produkt wächst. Die Druckerei Matabooks in Dresden produziert vegane Bücher aus Graspapier. Coca-Cola lässt die Etiketten seines Bio-Eistees aus Graspapier herstellen. Matthias Durst stanzt aus Graspapier Verpackungen in allen erdenklichen Formen – zum Beispiel eine Geschenkpackung für eine einzelne Praline. Kürzlich ließ er seine Produktionsräume neu streichen, in einem frischen Grün, weil das Fernsehen sich angekündigt hat, es will über die Grasdruckerei berichten.

„Wir mussten unsere Druckmaschinen nicht umrüsten“, sagt Durst, „aber wir mussten umdenken: Graspapier trocknet schlechter.“ Es erfüllt die Norm für Lichtechtheit. Es lässt sich weiß unterdrucken, um Fotos besser abzubilden. Man kann es mit einer Wasserbarriere aus Bienenwachs beschichten – dann taugt es als Verpackungsmaterial für Lebensmittel, die Feuchtigkeit enthalten.

Kalender, Flyer, Broschüren: Graspapier trägt 20 Prozent zum Umsatz des Familienbetriebs bei.

Kalender, Flyer, Broschüren: Graspapier trägt 20 Prozent zum Umsatz des Familienbetriebs bei.

Matthias Durst führt das Familienunternehmen gemeinsam mit seinem Cousin. Thomas Durst ist 48 Jahre alt und erinnert sich, wie Matthias vor drei Jahren anfing, vom Graspapier zu reden: „Es klang ein bisschen verrückt. Aber nicht total versponnen.“ Beiden war klar, in welch schwieriger Lage sich ihre Branche befand: Online-Druckereien machten die Preise kaputt. Und von allen Seiten bekamen die Dursts zu hören, in der digitalen Zukunft werde immer weniger auf Papier gedruckt.

Thomas zeigte seinem Cousin, welche Möglichkeiten das Internet ihrem Start-up bietet. Und Matthias stürzte sich mit dem Eifer eines Missionars in die sozialen Medien. Auf Instagram zeigt er mit kurzen Videos, welche Möglichkeiten Graspapier bietet. „So kann man Geschichten erzählen, so kriegt man Reichweite“, schwärmt er. Besonders am Herzen liegen ihm Verpackungen im Supermarkt: „Die großen Lebensmittelkonzerne betreiben Greenwashing – das geht in die falsche Richtung. Man könnte doch so viel Plastik ersetzen.“

Neulich schickte seine Frau ihn zum Einkaufen. Bei Aldi entdeckte er Bio-Äpfel, die in Graspapier verpackt waren. Noch aus dem Laden verschickte er ein Filmchen. „Das ging viral“, sagt er begeistert, „es wurde 268 000 mal geklickt.“

Hat er keine Angst, mit seinen großzügig verbreiteten Ideen die Konkurrenz zu wecken? „Wenn wir Menschen zusammenbringen, fällt auch für uns etwas ab“, sagt Matthias Durst optimistisch. „Wir haben eh nicht die Kapazitäten, ein paar Millionen Kellogg‘s-Packungen auf Graspapier zu drucken.“