„Ich brauche Schreiben, um leben zu können“

Olaf Engelhard wohnt mit anderen Autisten in einer WG

Vor neun Jahren interviewte das TAGBLATT Olaf Engelhard schon einmal. Seit drei Jahren hat sich im Leben des heute 45-Jährigen einiges geändert. Ganz entscheidend: der Wohnort. Engelhard lebt nun in Bodelshausen in einer Wohngemeinschaft mit anderen Menschen mit autistischer Behinderung. Engelhard kann nicht sprechen, er teilt sich über eine Buchstabentafel mit. Sein Vater, Klaus Engelhard, hält dabei die Hand des Sohnes und gibt ihr einen gewissen Gegendruck. Der Vater lenkt sie jedoch nicht, man merkt, es sind die Sätze des Sohnes. Olaf Engelhards Finger rast über die Buchstaben, dabei weiß er sogar, wenn sich „dass“ mit zwei S schreibt.

31.08.2016

Klaus (links) und Olaf Engelhard sind ein eingespieltes Team. Blitzschnell wandert der Finger des Sohnes über das hölzerne Buchstabenfeld und der Vater spricht die so entstehenden Sätze aus.Bild: Steuernagel

Klaus (links) und Olaf Engelhard sind ein eingespieltes Team. Blitzschnell wandert der Finger des Sohnes über das hölzerne Buchstabenfeld und der Vater spricht die so entstehenden Sätze aus.Bild: Steuernagel

Olaf, Sie waren vor neun Jahren schon einmal hier. Erinnern Sie sich an das Gespräch?

Olaf Engelhard: Ich erinnere mich gut. Es war ein schönes Gespräch. Ich bin nun etwas aufgeregt, weil ich schnell aufgeregt werde. (Während sein Finger über die Zahlenreihen fliegt, summt er Kirchenlieder, mal deutlich an- und mal abschwellend. Es scheint ganz von seinem Erregungsgrad abzuhängen. Sein Oberkörper schaukelt hin und her. Manchmal greift er in einem plötzlichen Reflex seinem Vater an den Bauch, als wollte er ihn kneifen. Er schaut während des Interviews immer nur ganz kurz in die Richtung der Interviewerin.)

Sie sehen gut aus.

Ich möchte sagen, ich fühle mich gut. Ich habe eine gute Zeit hinter mir.

Was hat sich in Ihrem Leben geändert?

Mir fallen viele Dinge ein. Ich bin älter und ganz vernünftig geworden (Vater lacht). Ich bin ganz froh über das Vergangene. Ich (im Gesumme ist „guter Gott“ zu verstehen) habe viel gelernt und hoffentlich nur Vernünftiges gemacht.

Sie wohnen jetzt in einer Wohngemeinschaft mit anderen autistischen Menschen. Wie geht das?

Ich möchte ganz viel über die Wohngemeinschaft erzählen. Ich wohne dort mit acht anderen Autisten zusammen. (Der Vater bindet sich eine Schürze um, womit er die kleinen Handgreiflichkeiten des Sohnes abwehren will. Es sei eine symbolische Maßnahme, erklärt er dazu). Ich bin komisch. (Ein Begriff für besonders aufgeregt, übersetzt der Vater.Nach einer kurzen Beruhigungspause geht es weiter.) Über mich will ich sagen, dass es mir gut geht. Ich habe ein eigenes Zimmer. Ich kann jetzt bestimmen, was ich möchte. Ich bin froh über die Arbeiten in der Küche. Ich habe gute Freunde und Helfer.

Haben Sie auch einen besten Freund oder eine beste Freundin?

Einer ist mir besonders wichtig. Er ist neu bei uns, ich spiele und arbeite mit ihm.

Was spielen Sie denn?

Ich spiele mit ihm: Elfer raus. Ich spiele mit ihm Würfelspiele. Ich spiele mit ihm Klavier (hoi, sagt der Vater dazu anerkennend). Ich spiele mit ihm vieles andere mehr.

Was passiert, wenn Sie beim Spielen verlieren?

Ich habe keine Probleme mit dem Verlieren. Ich spiele nur aus Freude.

Und wo arbeiten Sie?

Ich arbeite in der Küche. Ich arbeite beim Ganz-oft-Einkaufen. Ich arbeite Mit-Anderen-Sachen-tragen-und-holen. Ich bin voll beschäftigt.

Kennen Sie Langeweile?

Ich kenne auch Langeweile. Ich möchte sagen, ich liege dann auf dem Sofa und erhole mich.

Hören Sie Musik?

Ich höre viel Musik. Ich mag Bach, Beethoven. Ich liebe auch Jazz und Pop. Ich mag vieles.

Da Sie jetzt in einer WG leben, sehen Sie Ihre Eltern überhaupt noch?

Ich habe lustvolle Treffen am Wochenende. Manchmal bin ich auch in Bodelshausen.

Sie haben Assistenten. Immer nur tagsüber oder auch nachts?

Ich bin froh, Assistenten zu haben. Ich habe ganz viele unterschiedliche Stützer und Helfer. Ich bin froh, dass jetzt viele mir helfen können (singt jetzt sehr laut und immer wieder: Nananaaah). Bei den Anderen ist es ähnlich. Nachts ist eine Nachtwache bei uns und eine Nachtbereitschaft. (Er muss nun das Gespräch wegen zu großer Erregtheit unterbrechen und läuft ein paar Runden mit seinem Vater über den Gang. Nach ein paar Minuten geht es weiter).

Ist es in der WG nicht sehr laut?

Ohne Zweifel ist es auch mal laut bei uns. Wir sind alle schnell erregbar.

Wenn einer erregt ist, sind es die anderen dann auch?

Ich bin schnell erregt, wenn andere auch erregt sind. Ich bin aber auch schnell wieder ruhig (Das Thema scheint ihn aufzuwühlen, jetzt singt er laut: Ja-reija-reija-ja und setzt sich einen Stuhl von seinem Vater weg.)

Sprechen manche Ihrer Mitbewohner?

Ich meine, nur sehr wenig. Nur einzelne Wörter, aber meistens sehr undeutlich. Ich kann zum Beispiel nicht deutlich sprechen. Ich brauche einen Stützer. Ich bin dann ein anderer Mensch.

Das müssen Sie erklären!

Ich bin ein anderer Mensch, wenn ich schreiben kann und mich mitteilen kann. Ich brauche diese Hilfe für vieles: zum Denken, zum Lernen, zum Losgelöst-sein von Kummer. Ich brauche Schreiben, um leben zu können.

Schreiben Ihre Mitbewohner auch?

Ich kann sagen, wir sprechen über Schreiben miteinander.

Woher können Sie eigentlich so gut und schnell schreiben?

Ich weiß nicht, wo ich das gelernt habe, aber ich habe keine Probleme mit der Rechtschreibung (Anmerkung: Olaf Engelhard hat erst vor zwölf Jahren begonnen, sich über die Buchstabentafel mit anderen zu verständigen. Zuvor konnte er sich nur mit seinem Verhalten verständlich machen.)

Schreiben Sie auch am Computer?

Ich schreibe nicht am Computer. Ich bin dann zu aufgeregt und mache Quatsch.

Und lesen?

Ich lese viel. Ich lese keine Bücher, aber Comics mit meinem Vater (Er schaut sich ruckartig um.)

Stört Sie die offene Tür?

Ich habe nichts gegen die offene Tür.

Sie singen so viel. Würden Sie nicht gerne in einem Chor singen?

Ich kann nicht singen mit anderen, weil mir die Sprache fehlt. Aber ich höre gerne Chormusik.

Könnte der Chor nicht einfach summen?

Ich glaube nicht, dass das jemand gefallen würde.

Würden Sie gerne noch etwas erzählen?

Ich möchte nicht viel mehr sagen. Ich möchte mich bedanken, dass ich hier sein konnte, und ich öfters glücklich sein konnte, Ihnen etwas erzählen zu können.

Ich danke Ihnen auch sehr für das Gespräch.

Interview: Ulla Steuernagel

Vom Modellfall zur Lebensform

2009 war mit einer Tagesgruppe für autistische Erwachsene in der Pfrondorfer Sophienpflege ein landesweites Modell geschaffen worden. 2013 zog die Einrichtung nach Bodelshausen um. Hier konnte die Tagesbetreuung in der ehemaligen Zivildienstschule der KBF (Körperbehindertenförderung Neckar-Alb) zu einer Wohngruppe ausgebaut werden. Damit war einer Gruppe von Eltern junger autistischer Erwachsener aus Tübingen und benachbarten Landkreisen endlich gelungen, was sie mit ihrem Verein „Lebensräume für autistische Menschen“ bezweckt hatten: Sie wollten ihren Kindern eine Lebensperspektive außerhalb und doch nahe der Familien bieten. Vorhandene Wohneinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung nehmen Autisten oft nicht auf. Denn diese Behinderung geht mit schweren motorischen Störungen und wenig Möglichkeiten zur Interaktion einher. Menschen mit Autismus-Syndrom entwickeln große Ängste und zeigen dann (auto-)aggressive Verhaltensweisen.

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Erstellt:
31.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 03sec
zuletzt aktualisiert: 31.08.2016, 01:00 Uhr

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