Tübingen

OB Palmer im Interview zum Klimaschutz: Den Wandel prägen

Schon lange gilt Tübingen als grüne Stadt – seit 2007 hat sie einen grünen OB. Er will dafür sorgen, dass die Stadt klimafreundlicher wird, fördert das Fahrradfahren und setzt sich für den Bau einer Stadtbahn ein. Doch welche Schritte schweben Boris Palmer konkret vor? Und was heißen seine Pläne für die hiesige Industrie und Wirtschaft? Palmer gibt Antworten Im Interview.

28.10.2021

Von Lorenzo Zimmer

OB Boris Palmer. Bild: Ulrich Metz

OB Boris Palmer. Bild: Ulrich Metz

Herr Palmer, was tut Tübingen, um klimaneutral zu werden – und seit wann?

Tübingen ist seit Anfang der 1990er-Jahre Mitglied im Klimabündnis. Die Stadt hat vergleichsweise früh damit begonnen, sich diesem Thema zu widmen.

Wie sehen die Bemühungen
der Stadt seitdem aus und warum sind sie wichtig?

In dieser ersten Phase ging es zum Beispiel sehr stark darum, Gebäude als Stadt möglichst klimafreundlich und effektiv zu sanieren. So übernahm die Verwaltung schon früh eine Vorbildfunktion und zeigte auf, wie es gehen kann. Es gehörte auch dazu, bestimmte Zertifizierungen zu erhalten und zum Beispiel mit einer guten Bewerbung für den Energy Award voranzugehen. Das ist gelungen.

Und die zweite Phase?

Das Projekt „Tübingen macht blau“ war unser Versuch, diese Dinge breit in die Gesellschaft hineinzutragen. Das begann 2008. Wir haben die Wirtschaft, den Handel, die Universität und alle Bürgerinnen und Bürger zum Mitmachen motiviert – mit Erfolg.

Wie sehen die Erfolge bisher aus?

Wir sind 37 Prozent runtergekommen bei den Tübinger CO2-Emissionen in nur einem Jahrzehnt.

Reicht das nicht? Sollen jetzt nicht erstmal andere nachziehen?

Nein, denn jetzt beginnt die dritte Phase, der Endspurt. Es ist wichtig, dass wir das Thema als Stadtgesellschaft jetzt nochmal anziehen. Auch um zu zeigen, dass Klimaneutralität ein erreichbares Ziel ist.

Was macht das jetzige, das neue Klimaprogramm aus?

Das neue Programm zeichnet sich durch den Versuch aus, die ganz großen Hebel umzulegen: Alle Ölheizungen raus, alle ran an erneuerbare Wärmenetze. Mehr erneuerbarer Strom, Solaranlagen auf allen Dächern. Das Carsharing verzehnfachen, eine Stadtbahn bauen, die Radwege ausbauen.

Sie sprechen die Stadtbahn an – der Bürgerentscheid fiel nicht so aus, wie Sie es sich gewünscht hätten. Was bedeutet das „Nein“ der Bürgerinnen und Bürger zu ihren Plänen der Innenstadtstrecke?

Nein heißt Nein. Aber wir sollten jetzt versuchen herauszufinden, was die Gründe für dieses Nein waren. War es eine kategorische Ablehnung von Schienenverkehr in Tübingen, oder ging es um die Mühlstraße als neuralgischen Punkt?

Was, wenn es nur um die Mühlstraße ging?

Wenn das der Fall und auch so beweisbar wäre, müssen wir uns nochmal mit dem Thema der Alternativen befassen. Dann ginge es darum, möglichst einen großen Teil von diesem Stadtbahnprojekt zu retten, denn das „Nein“ hat auch über Tübingens hinaus Konsequenzen.

Welche?

Zum Beispiel, dass die Wirtschaftlichkeit der Rottenburger Strecke durch einen Wegfall der Tübinger Strecke ganz erheblich gefährdet wäre.

Zurück zum neuen Klimaschutzprogramm der Stadt und mal abgesehen von der Stadtbahn: Was sind die wichtigsten Punkte?

Zentral und neu ist vor allem die Umstellung der kompletten Wärmeversorgung in der Stadt auf erneuerbar erzeugte Fernwärme. Das erfordert die Bereitschaft der Betreiberinnen und Betreiber von Heizungen, die alte Anlage stillzulegen – und eine neue einzubauen. Da wünsche ich mir Freiwilligkeit, denn wir können schon jetzt garantieren, dass die Kilowattstunde bei einer Vollkostenrechnung nicht teurer ist als mit einer fossilen Anlage.

Aber die alte Heizungsanlage ist im Zweifel noch nicht vollständig abgeschrieben ...

Korrekt. Dieses Warten auf die Abschreibung kann nur leider das Klima sehr schlecht ertragen. Deswegen lautet mein Appell, nicht auf die Abschreibung zu warten, sondern sofort zu tauschen.

Das würde vor allem auch Unternehmen und Betriebe betreffen. Was kommt auf Tübinger Firmen noch zu in Sachen Klimaschutz?

Der zweite große Punkt, der die Wirtschaft betreffen wird, ist: Wir werden das kostenlose Parken am Straßenrand auch in den Gewerbegebieten mittelfristig beenden. Das heißt, wir werden finanzielle Anreize setzen, umweltfreundlich zum Arbeitsplatz zu kommen: mit dem Fahrrad, mit Mikromobilität oder mit dem ÖPNV. Und mit der Stadtbahn wäre der dann auch so gut ausgebaut, dass auch die Gewerbegebiete gut erreichbar sind.

Die Debatten um die Stadtbahn, aber auch um andere Projekte der Stadt zeigen: Klimaschutz ist mühsam, die Debatte darum oft anstrengend und das Ganze erinnert an schwere Aufgaben aus der Mythologie – etwa Sisyphos oder Herkules. Nervt es Sie, dass der Klimaschutz so ein Kraftakt ist?

Also Herkules und Sisyphos passen aus meiner Sicht ganz gut. Es war mir schon immer klar, dass solche Vergleiche besonders auf den Verkehrsbereich zutreffen. Schon 2001 habe ich die Auto-Fixiertheit vieler Mitbürger im Landtag deutlich gespürt – heute gibt es ganz sicher eine größere Offenheit gegenüber den Alternativen. Aber das Auto bleibt das heilige Blechle. Und während es in Frankreich gelingt, in geeigneten Städten wieder Stadtbahnen einzuführen, werden solche Projekte bei uns oft durch Bürgerentscheide gestrichen.

Ärgert Sie das?

Ärger bringt ja nix. Die Aufgabe des Klimaschutzes wird halt immer drängender. Und es wird immer wichtiger, die Botschaft unter die Leute zu bringen, dass es Klimaschutz nicht gibt, wenn wir nicht bereit sind, unser Leben zu verändern.

Warum muss Deutschland, warum muss unsere Gesellschaft beim Klima unbedingt vorangehen, wenn die großen Klimasauereien ganz woanders geschehen?

Das hat zwei wichtige Gründe. Der pragmatische: Wenn man vorne dabei ist, kann man diesen Wandel mit prägen – und an ihm auch ganz gut was verdienen. Wir sollten nicht riskieren, wie beim Automobilbau abgehängt zu werden. Und dann hat das Ganze noch den moralischen Aspekt: Historisch gesehen haben wir Deutschen so viel mehr zum Klimaschaden beigetragen, dass die auf uns zeigen können und nicht wir auf sie. Man muss die Auswirkungen aufs Klima historisch betrachten und pro Kopf rechnen – 1,3 Milliarden Chinesen müssen doch mehr emittieren dürfen als 80 Millionen Deutsche.

Wie passt der Anspruch auf Wachstum in unserem Wirtschaftssystem mit dem Streben nach mehr Klimaschutz zusammen?

Das ist umstritten, gerade in Tübingen. Es gibt eine Bürgerbewegung, die das Ende des Wachstums fordert und keine weiteren Arbeitsplätze sehen möchte. Und man muss ja feststellen: Ende des Wachstums, Ende der Arbeitsplätze, das sind auch mögliche Lösungen des Problems. Weniger Wohlstandszuwachs führt zu weniger CO2-Emissionen.

Was halten Sie von diesem Ansatz?

Nun, er ist für den Großteil der Weltbevölkerung, der noch weit weg von unserem Wohlstand ist, schlicht nicht akzeptabel. Dieser Weg würde bei uns gigantische Verteilungskämpfe auslösen. Zum Beispiel, weil man Leuten die Rente kürzt, weil nicht mehr genügend Beitragszahler da sind.

Was ist die Alternative?

Die Alternative ist, einen Weg aufzuzeigen, der Wohlstand und Klimaschutz vereinbar macht. Das haben wir mit „Tübingen macht blau“ geschafft – weniger CO2-Ausstoß und mehr Arbeitsplätze sind die Bilanz.

War es sinnvoll, die Atomkraftwerke abzuschalten, bevor man aus der Kohle ausgestiegen ist?

Darüber habe ich auch schon öfter nachgedacht. Ich sage es so: Wenn man sicher hätte sagen können, dass in der Restlaufzeit der Atomkraftwerke kein GAU passiert, wäre die Umkehrung der Reihenfolge richtig gewesen. Ich bin ganz froh, dass das Risiko eines GAUs in Deutschland im nächsten Jahr auf null geht.

Wenn es nach Ihnen geht, Herr Palmer: Wie lebt der Tübinger im Jahr 2050? Was isst er, wie wohnt er und wie bewegt er sich?

Ich hoffe, dass ich das noch erleben darf. Jahrgang 1972, wäre also denkbar. Spaß beiseite: Die Tübinger werden eine sehr viel höhere Lebensqualität haben – mit viel Mobilität, die ohne Lärm und Abgase auskommt und wenig Platz braucht. Mehr Grün, mehr Aufenthaltsqualität, mehr Platz für Begegnung. Das dürfte im Verkehr sichtbar geworden sein. Weniger sichtbar werden emissionsfreie Heizungen sein, die in der Tiefe liegen. Die Stromversorgung steht als Windräder im Schönbuch oder ist als PV-Anlagen auf den Dächern. Ich glaube, dass man auf solche Dinge dann eher mit Stolz blicken wird. Was der Tübinger 2050 isst, weiß ich nicht – aber sollte ich als alter, weißer Mann dann noch in ein Restaurant gehen dürfen: Ich würde mir ein Schnitzel bestellen.

Stimmen von anderen Bürgermeistern

Rottenburg: Auch Rottenburg tut viel, um als Stadt klimafreundlicher zu werden. Wie Oberbürgermeister Stephan Neher auf Nachfrage bestätigt, setze man die Maßnahmen des Klimaschutzkonzeptes um, die Bemühungen seien mit dem Beitritt zum European Energy Award fortgeschrieben worden. Dazu zählen auch ein Radverkehrskonzept und ein Fußverkehrskonzept, aber auch Neuerungen für die Nahwärme in Neubaugebiete und Mindestenergieeffizienzstandards für Wohngebäude. Auch bei kommunalen Gebäuden, der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Strom und Wärme, beim geplanten regionalen Schlachthof und weiteren Themen will Rottenburg seine Bemühungen um Klimaneutralität verstärken.

Der ortsansässigen Wirtschaft versuche die Kommune „mit passenden Angeboten unter die Arme zu greifen“, berichtet Neher: mit runden Tischen zur Wirtschaftspolitik, mit Beratungsangeboten wie etwa einem Energieberater und mit Workshops – etwa zur Perspektive des Gewerbegebiets Siebenlinden. „Die örtlichen Unternehmen werden sich zukünftig unter anderem mit einem steigendem CO2-Preis auseinandersetzen müssen. Und mit höheren Auflagen seitens der Politik“, so Neher offen. Dazu könnten auch das neue Klimaschutzgesetz im Land, die Solarpflicht für Nicht-Wohngebäude sowie neue Regelungen für neu zu schaffende Parkplätze beitragen. Dass die Region beim Klimaschutz vorangeht, begründet Neher zudem ausführlich: „Regionen mit hoher Innovationskraft sind in der Lage, die große Herausforderung, die mit der Klimaneutralität einhergeht, zu stemmen.“ Zudem erhalte Innovationskraft – auch im Bezug auf Klimaneutralität – die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit: „Wir müssen auch unter den Bedingungen der Klimaneutralität wettbewerbsfähig bleiben“, so Neher weiter. „Nur so kann unser Wohlstand beibehalten werden.“ Geschäftsfelder, die im Zuge der Klimaneutralität entstehen, rechtzeitig zu besetzen, mache die Region zukunftsfähig: „Wenn die Transformation zur Klimaneutralität nicht in innovativen und wohlstandsgeprägten Regionen gelingt, wo soll es dann gelingen?“

Mössingen: Mössingen ist bereits seit 1994 Mitglied des Klima-Bündnisses und beteiligt sich mit seinen Stadtwerken an der Agentur für Klimaschutz im Kreis Tübingen.„Seit vielen Jahren erfassen wir die Verbräuche unserer kommunalen Gebäude. Wir beheben energetische Schwachstellen im Gebäudebestand und nutzen Einsparpotenziale bei anstehenden Modernisierungen“, sagt Mössingens Oberbürgermeister Michael Bulander. Die Wärmeerzeugung werde seit vielen Jahren bereits zu einem großen Teil durch Nahwärmeinseln, also Blockheizkraftwerke, abgedeckt. „Erst vor zwei Jahren haben wir mit unseren Stadtwerken über 100 Wohneinheiten gemeinsam mit der Kreisbau Tübingen mit einem Nahwärmenetz an unser Schulzentrum angebunden“, so Bulander. So werden Freibad und die Schulen am Firstwald mittlerweile mit Wärme aus Deponiegas, andere Schulen, Kitas, eine Mehrzweckhalle und Wohngebäude mit Wärme aus Holzhackschnitzeln und Holzpellets beheizt. Bei Sanierungen wie Neubauten werde auf Klimafreundlichkeit geachtet, Photovoltaik installiert, Beleuchtung sukzessive auf LED-Technik umgestellt. Seit 2017, so berichtet Bulander, arbeiten Gemeinderat, Stadtwerke und Stadtverwaltung an weiteren Nahwärmekonzepten, etwa im Hoeckle-Areal. Parallel dazu erarbeite Mössingen eine kommunalen Wärmeplanung. Auch ein Klimaschutzkonzept soll entstehen, in dessen Zusammenhang „vom Gemeinderat auch die Frage der kommunalen Klimaneutralität zu beantworten ist“, so Bulander. Eine Beteiligung an einem Pilotprojekt zu grünem Wasserstoff sei geplant. Konkrete Auswirkungen der kommunalen Klimaneutralität auf ortsansässige Wirtschaft zu benennen, fällt Bulander aber schwer: „Zu unterschiedlich sind unsere mittelständischen Unternehmen und noch völlig unklar ist, mit was diese bei einer vollständigen kommunalen Klimaneutralität konkret umzugehen haben.“ Die Stadt sei sich ihrer Verantwortung bewusst und arbeite an ihrer Klimafreundlichkeit. Bulander: „Deshalb unterstützen wir das zentrale und größte Klimaschutzprojekt unserer Region, die Regionalstadtbahn, ausdrücklich.“