„Niemals mit Sicherheit“

Interview mit Filmemacher Vetter zur Freilassung von Jens Söring

Den Tübinger Filmemacher Marcus Vetter erreichte die Nachricht von der Freilassung des US-Langzeithäftlings Jens Söring mitten in der Nacht.

28.11.2019

Von Ulla Steuernagel

Marcus Vetter. Archivbild: Fabian Renz-Gabriel

Marcus Vetter. Archivbild: Fabian Renz-Gabriel

Der Tübinger Dokumentarfilmer Marcus Vetter porträtierte 2016 zusammen mit der Journalistin Karin Steinberger den schon 30 Jahre im US-Gefängnis einsitzenden deutschen Diplomatensohn Jens Söring, der zusammen mit seiner damaligen Freundin Elisabeth Haysom deren Eltern getötet haben soll. Der Film „Das Versprechen“ machte den Fall Söring in Deutschland bekannt und erregte auch in den USA Aufsehen. Nun, drei Jahre danach, wird Söring zwar nicht umfassend begnadigt, aber vorzeitig aus der Haft entlassen. Marcus Vetter, der gerade unterwegs ist, um seinen neuesten Film zu promoten, beantwortete uns dazu ein paar Fragen.

Jens Söring wird nach 33 Jahren vorzeitig aus dem Gefängnis in Virginia entlassen und soll nun bald nach Deutschland abgeschoben werden. Wie war Ihre Reaktion auf diese Nachricht?

Es war eine unglaubliche Erleichterung das zu hören. Ich war gerade auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in Amsterdam, wo mein neuer Film „Das Forum“ seine internationale Premiere feierte. Mich erreichte die Nachricht um 1 Uhr in der Nacht, und mein Telefon lief heiß. Ich habe noch selten eine Nachricht sich so schnell verbreiten sehen.

Nach Ihrem Film „Das Versprechen“ von 2016 gewinnt man den Eindruck, die Ermittlungen im Fall Haysom seien schlampig verlaufen, Beweise unterdrückt, Hinweisen nicht nachgegangen worden, und es habe keine ausreichenden Indizien für die Beteiligung Sörings an dem Doppelmord an den Eltern seiner Freundin gegeben. Welche Tatsachen und Aussagen wirkten bei Ihren Recherchen und Filmaufnahmen für Sie besonders überzeugend?

Der Fall ist unglaublich komplex. Selbst wenn man Jahrzehnte Zeit hätte zu recherchieren, würde man wahrscheinlich die Wahrheit, was damals passiert ist, nicht herausfinden. In unserem Film ging es vor allem darum herauszuarbeiten, dass der Fall nicht über jeden Zweifel erhaben ist – und dies ist ja ein weltweiter Rechtsgrundsatz. Außerdem haben wir die Geschichte einer ersten Liebe erzählt. Jens ist damals ja gerade mal volljährig geworden und wäre in Deutschland, wenn überhaupt, als Jugendstraftäter verurteilt worden. Nach der Recherche von hunderten Stunden Prozessmaterial bekam ich einfach den Eindruck, dass ich niemals mit Sicherheit hätte sagen können, dass er der Täter war. Ich hatte eher den Eindruck gewonnen, dass er es nicht war.

Ist das nach einer so langen Gefängnisstrafe überhaupt noch die entscheidende Frage?

Egal, wie man zu seiner Schuldfrage steht, nach meinem Rechtsverständnis hat er seine Schuld längst abgesessen und sollte endlich die Chance bekommen, den letzten Teil seines eh schon völlig verkorksten Lebens in Freiheit zu verbringen. Und dem wurde nun endlich stattgeben.

Söring wurde nicht wegen Justizirrtums oder mangelnder Beweislage begnadigt, sondern wegen guter Führung und weil er keine Sicherheitsgefahr mehr darstelle. Hätten Sie mehr erwartet?

Er hätte natürlich mehr erwartet. Doch das war in dieser Gemengelage wohl einfach nicht möglich. Sein Fall ist in Virginia politisch so aufgeladen, dass kein Gouverneur es sich politisch leisten könnte, Jens Sörings Unschuld anzuerkennen oder ihn zu begnadigen. Deshalb hat der Bewährungsausschuss beschlossen, beide vorzeitig auf Bewährung zu entlassen – Elizabeth Haysom und Jens Söring. Das war politisch einfacher, in Virginia zu verkaufen.

Ein ehemaliger Strafverteidiger in Texas, Andrew Hammel, wirft Ihnen und Ihrer Mitautorin und Journalistin Karin Steinberger in „Faz.net“ vor, mit Ihrem Dokumentarfilm lieferten Sie ein Paradebeispiel für einseitige Berichterstattung über den Fall Söring und seien damit in einer „Mischung aus Zynismus und Gutgläubigkeit“ am Unschuldsmythos
beteiligt.

Sie haben unseren Film gesehen und wissen ja, dass wir eben keine Behauptungen aufstellen, sondern jahrelang recherchiert haben, dass wir Experten, Zeugen, Ermittler befragt haben, sogar den damals beteiligten Richter und den FBI-Experten, der das verschwundenen FBI-Profil verfasst hat, dass wir das gesamte Gerichtsmaterial durchforstet haben. Und dass wir unzählige Menschen aller Richtungen zu Wort kommen lassen, die sich jahrelang mit dem Fall beschäftigt haben.

Den Vorwurf der Einseitigkeit wehren Sie entschieden ab?

Wir behaupten ja eben nicht, wie Herr Hammel, der war es oder der war es nicht, sondern wir lassen Menschen reden, die mehr wissen als wir. Wir machen Journalismus. Natürlich ist ein Dokumentarfilm immer auch eine narrative Verdichtung, niemals kann ein Film in 90 oder 180 Minuten die gesamte Realität abbilden. Wir wissen alle nicht, was genau damals passiert ist. Und dennoch freue ich mich, dass Jens Söring bald auf freien Fuß kommt und hoffentlich bereits Weihnachten in Deutschland sein darf.

Das Versprechen

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Erstellt:
28.11.2019, 22:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 13sec
zuletzt aktualisiert: 28.11.2019, 22:30 Uhr

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