„Nicht jeder Infizierte ist sofort ansteckend“

Interview mit Virologe Thomas Stamminger über Corona

Chef-Virologe Thomas Stamminger vom Uniklinikum Ulm über die Ausbreitung von Corona und die Möglichkeiten der Medizin.

09.03.2020

Von Christoph Mayer

Prof. Thomas Stamminger ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie am Uniklinikum Ulm. Foto: Stefanie Moeloth

Prof. Thomas Stamminger ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie am Uniklinikum Ulm. Foto: Stefanie Moeloth

Ob gewöhnliche Influenza, Schweinegrippe oder jetzt Corona – immer, wenn Epidemien grassieren, sind Virologen besonders gefordert und stehen plötzlich im Rampenlicht. Auch am Ulmer Uniklinikum müssen sie Zusatzschichten einlegen, seit die ersten Covid-19-Fälle Anfang der Woche die Region erreicht haben.

Bisher gibt es in der Region nur Einzelfälle von positiv getesteten Coronavirus-Patienten. Mit wie vielen Fällen rechnen Sie in den nächsten vier bis sechs Wochen?

Prof. Thomas Stamminger: Momentan ist das nicht vorhersagbar. Alle Fälle, die wir bislang in Ulm gesehen haben, haben eine Reise-Anamnese, das heißt: Alle Infizierten waren zuvor in Südtirol im Urlaub. Gottseidank ist es so, dass wir innerhalb dieser Gruppe wohl keine weiteren Infektionsketten haben. Die künftige Entwicklung ist trotzdem schwierig vorherzusehen. Sollten bei uns in den nächsten Tagen und Wochen weitere bislang unentdeckte Fälle auftauchen, die die Infektion ungehindert weitergegeben haben, kann es schnell zu steigenden Fallzahlen kommen.

Ebbt die Infektionsrate im Frühling ab oder kommt gar zum Stillstand?

Die große Hoffnung ist, dass sich das Coronavirus genauso verhält wie viele andere Viren, die Atemwegsinfektionen hervorrufen. Sie treten vor allem saisonal in der kühlen Jahreszeit auf und verlieren mit steigenden Temperaturen und dem Einsetzen stärkerer Sonnenbestrahlung an Dynamik.

Ihr Kollege Christian Drosten von der Berliner Charité geht davon aus, dass mittelfristig 70 Prozent der Deutschen Corona bekommen werden. Halten Sie das für realistisch?

Das ist durchaus vorstellbar. Wir haben es offensichtlich mit einem hoch ansteckenden Erreger zu tun. Und wir haben bei den einzelnen Patienten, die wir untersucht haben, sehr hohe Virusmengen nachweisen können. Andererseits zeigen diese Patienten kaum eine Symptomatik.

Was schließen Sie daraus?

Infizierte Menschen können das Virus sehr leicht an andere weitergeben – die sind dann möglicherweise ebenfalls ohne starke Symptome. Irgendwann trifft es aber jemanden mit Vorerkrankungen. Erst anhand dieses schwer erkrankten Patienten erkennt man die Infektion. Wenn das Virus erst mal in der Bevölkerung zirkuliert, kann es sich sehr rasch ausbreiten, ähnlich wie klassische Influenzaviren. Mancher erinnert sich vielleicht ans Jahr 2009, als die Schweinegrippe grassierte. Dieses Virus hat binnen zwei Monaten fast die gesamte Bevölkerung durchinfiziert. So etwas ist auch beim Coronavirus vorstellbar. Wir hoffen, dass das nicht innerhalb kurzer Zeit passiert, sondern auf längere Zeiträume ausgedehnt werden kann.

Wieso gerade 70 Prozent?

Wenn 70 Prozent der Bevölkerung immun sind, ist zu erwarten, dass sich das Virus nicht mehr effizient ausbreiten kann.

Bei einem zu erwartenden so hohen Durchseuchungsgrad würden Tests keinen Sinn mehr ergeben.

Das ist richtig. Sollte die Durchseuchung wirklich so hoch sein, würde man nicht mehr so strikt testen wie gegenwärtig. Momentan ist es aber immer noch das Ziel, Infektionsketten zu unterbrechen.

Ist man mit einem negativen Testergebnis auf der sicheren Seite?

Nein. Man muss wissen, dass der Test versucht, zwei unterschiedliche Fragen zu beantworten. Die erste lautet: Ist der Patient infiziert? Bei einem positiven Testergebnis ist dies eindeutig so. Ist der Test negativ ist, schließt das eine Infektion jedoch nicht aus. Die zweite Frage lautet: Ist der Patient auch infektiös, überträgt er das Virus? Ist das Testergebnis stark positiv, ist der Patient tatsächlich ansteckend. Ist der Test aber negativ, schließt das die Infektiosität mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus. Klingt die Infektion beim Patienten zu diesem Zeitpunkt bereits wieder ab, kann man davon ausgehen, dass er niemanden mehr anstecken wird.

Welche Rolle spielt der Ansteckungszeitpunkt?

Wenn sich jemand ganz frisch angesteckt hat, dann geht das Virus zunächst einmal in nur ganz wenige Zellen hinein. Zu diesem frühen Zeitpunkt können unsere Tests das Virus noch nicht nachweisen. Es muss erst eine gewisse Viruslast im Körper vorhanden sein. Man nimmt in der Regel einen Rachenabstrich. Das Material ist aber erst ab einem bestimmten Zeitpunkt nach Infektion positiv. Momentan lässt sich nicht sagen, ob das schon zwei Tage nach der Infektion der Fall ist oder erst nach zehn oder zwölf Tagen. Wer getestet wird und negativ ist, sollte deshalb die 14-tägige Quarantäne einhalten. Aktuell geht man davon aus, dass nach 14 Tagen keine Infektiosität mehr vorhanden ist. Will man ganz sicher gehen, muss man nach 14 Tagen noch einmal nachtesten.

Es gibt Patienten, die schwach positiv getestet wurden. Was heißt das?

Wir haben eben einen dynamischen Verlauf. Der Patient infiziert sich mit dem Virus, das in den Körper eintritt und zunächst einzelne Zellen infiziert. Dann steigt die Viruslast langsam an. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt man den Patienten testet, kann man eben niedrige oder hohe Viruslasten nachweisen. Wenn die Infektion aufhört, fällt die Viruslast wieder ab – so wie bei allen Virusinfektionen.

Wie lange dauert die Auswertung?

Ein Test kann in vier bis fünf Stunden durchgeführt werden.

Was für eine Kapazität haben Sie am Uniklinikum ?

Wir können etwa 100 Tests pro Tag durchführen.

Die Sterberate ist gering, in China spricht man von zwei bis drei Prozent, für Deutschland prognostizieren Experten sogar deutlich weniger als ein Prozent. Wie erklärt sich dieser Unterschied?

Das liegt an unterschiedlichen Berechnungen. In China geht man aktuell von der Zahl an nachgewiesenen Infektionen aus, also von etwa 80?000 Fällen. Das Problem dabei ist, dass man nicht genau weiß, was in China als Infektion gezählt worden ist, weil dort offensichtlich die Definitionen gewechselt wurden. Man hat dann die Zahl der Todesfälle genommen und den Quotienten ausgerechnet. Aber auch in China dürfte es eine hohe Zahl von nicht erkannten Infektionen geben. Hierzulande haben viele Menschen fast keine Symptome, und es ist davon auszugehen, dass das in China genauso war beziehungsweise ist. Ich gehe davon aus, dass eine maximale Letalität von zwei bis drei Prozent vorhanden ist, aber dass die wirkliche Sterberate geringer ist.

Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb die Infektionsrate in Europa ausgerechnet in Italien so hoch ist und weiter dramatisch ansteigt?

Vermutlich kursiert die Infektion in Italien schon längere Zeit unerkannt. Somit dürften deutlich mehr Menschen infiziert sein, als die offiziell bekannt gegebenen Zahlen suggerieren.

Das chinesische Staatsfernsehen hat einen „Durchbruch“ bei der Entwicklung eines Impfstoffs vermeldet? Propaganda? Oder ist es realistisch, dass wir noch in diesem Jahr einen Impfstoff bekommen?

Ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten Monaten keinen Impfstoff bekommen werden. Jede Impfstoffentwicklung gliedert sich in zwei Phasen. Zuerst entwickelt man einen Impfstoffkandidaten. Dann muss man aber nachweisen, dass der Impfstoff auch wirksam ist und keine Nebenwirkungen verursacht. Dieser Nachweis kann nur über klinische Studien erfolgen. Man muss also eine bestimmte Anzahl von Menschen in die Studie einbeziehen, sie impfen und die Resultate abwarten. Bis zur Zulassung und Genehmigung vergeht weitere Zeit. Das alles dauert mindestens ein Jahr. Zudem gelingt gerade bei Viren, die die Atemwege befallen, nicht immer eine Impfstoffentwicklung.

Zur Person Thomas Stamminger

Karriere Seit Anfang 2018 leitet Prof. Thomas Stamminger das Institut für Virologie des Uniklinikums. Zuvor war der 58-Jährige von 1995 bis 2017 Professor für Virologie an der Uni Erlangen-Nürnberg. Obwohl die Virologie ein forschungsorientiertes Fach ist, sieht Stamminger in der mittelbaren Krankenversorgung eine wichtige Aufgabe seiner Disziplin. Bei seinem Amtsantritt nannte er die Sicherstellung einer optimalen diagnostischen und therapeutischen Versorgung von Patienten mit Virusinfektionen als einen seiner Schwerpunkte.