Als Ehrenamtlicher der letzte Mohikaner

Nach fünf Jahren als Landesbehindertenbeauftragter zieht Gerd Weimer eine positive Bilanz

Gerd Weimer wurde Lehrer aus Berufung und ist Politiker, seit er mit 27 in den Tübinger Gemeinderat kam. Seit damals beschäftigt ihn das Thema Inklusion. Seit fünf Jahren ist der frühere Tübinger Sozialbürgermeister Landesbehindertenbeauftragter. Jetzt will er das Amt abgeben.

25.06.2016

Von Renate Angstmann-Koch

„Ich habe keine Minute bereut“, sagt Gerd Weimer über seine Zeit als Landesbehindertenbeauftragter. Sie bescherte ihm, eigentlich schon fast im Pensionsalter, einen als Ehrenamt deklarierten Fulltimejob. Bild: Sommer

„Ich habe keine Minute bereut“, sagt Gerd Weimer über seine Zeit als Landesbehindertenbeauftragter. Sie bescherte ihm, eigentlich schon fast im Pensionsalter, einen als Ehrenamt deklarierten Fulltimejob. Bild: Sommer

Tübingen. Sobald die neue Landesregierung einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden hat, will sich Gerd Weimer zurückziehen. „Ich habe meine Kinder nur teilweise aufwachsen sehen, und ich will nicht, dass es mir mit meinen drei Enkeln genauso geht“, begründet er diesen Schritt. Doch er habe dem neuen grünen Sozialminister Manfred („Manne“) Lucha zugesagt, notfalls bis zum Ende der Sommerferien zu bleiben. Ohnehin: Er will sich auch weiter zu Wort melden – etwa zum Bundesteilhabegesetz.

Wenn der 67-Jährige über die Zeit seit 2011 spricht, fallen Sätze wie „ich musste nochmal Vollgas geben“ oder „es waren fünf unheimlich intensive Jahre“. Jahre, in denen das Thema Inklusion im Land vorankam. „Ich hatte große Spielräume und Freiräume, wurde als wirklich unabhängiger Behindertenbeauftragter ins Amt eingesetzt“, hebt er hervor.

Einige glückliche Umstände halfen – etwa, dass der Bundestag 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifizierte, das Thema also „mehr angekommen war als fünf oder zehn Jahre vorher“. Sie ist eine Menschenrechtskonvention, was nur im ersten Moment banal klingt. Vieles, was die meisten für selbstverständlich halten – selbst zu bestimmen, wo und mit wem man zusammenlebt, eine eigene Familie zu gründen, voll am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben – ist für Menschen mit Behinderungen oft nur ein Traum. So werde etwa bei Fragen der Barrierefreiheit noch viel zu oft mit Sachzwängen argumentiert, kritisiert Weimer. Und die Forderung der Behindertenbewegung „nichts über uns ohne uns“ bleibt aktuell.

Dennoch: „Ich stieß in der Exekutive und im Parlament auf Menschen, die unheimlich gut kooperiert haben“, beschreibt Weimer, wie es in den vergangenen Jahren gelang, für die etwa 1,5 Millionen Menschen mit Behinderungen im Land (davon 1,12 Millionen schwerbehinderte Menschen) einiges zu erreichen. Er sei viel herumgekommen, kenne fast alle Einrichtungen im Land, viele Werkstätten und Schulen. Als Sprecher der Landesbehindertenbeauftragen ist er auch Mitglied im Inklusionsbeirat der Bundesregierung. „Es ist beeindruckend, welche Persönlichkeiten in diesem Bereich auf Bundes- und Landesebene aktiv sind“, findet er.

Der Landesbehindertenbeauftragte ist auch Ombudsstelle. 200 Eingaben wurden im Jahr 2011 gezählt, heute sind es über 1000: „Es ist nichts so erfolgreich wie der Erfolg.“ Es mache ihn stolz, dass er mit „hoch engagierten, qualifizierten Mitarbeitern“ oft habe helfen können: „Das war aus meiner persönlichen Sicht das Erfüllendste.“

Weimer hat einen Tätigkeitsbericht vorgelegt. In einem „großen Prozess“ wurde ein Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erarbeitet und „viel von Betroffenen Angeregtes aufgenommen“. Nun hofft er, dass nicht erst in fünf Jahren, sondern schon 2017 oder 2018 evaluiert wird, was aus den Vorschlägen wurde.

Ein „Riesenthema“ war das neue Schulgesetz. Baden-Württemberg habe als letztes Bundesland die Sonderschulpflicht abgeschafft. Eltern können nun selbst entscheiden, wo ihre Kinder unterrichtet werden. „Wir brauchen mehr Geld im System“, ist für Weimer jedoch keine Frage: „Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif.“ Im Kreis Tübingen gingen schon über 50 Prozent der betroffenen Kinder in Regelschulen – „ein tolles Ergebnis“.

Die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt sei hingegen „ein Trauerspiel“. Im Öffentlichen Dienst liege Baden-Württemberg nur auf dem 13. Platz, in der Privatwirtschaft mit einer Beschäftigungsquote von 4,3 Prozent auf einem Mittelplatz weit hinter ostdeutschen Ländern, „obwohl die Wirtschaft brummt und die Steuereinnahmen gut sind“. Seine Forderung: Die vorgeschriebene Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten soll wieder auf 6 Prozent angehoben werden und die Ausgleichsabgabe, wenn sie nicht erfüllt wird, ebenfalls steigen.

Gerd Weimer hat Grünen und CDU im Land für ihre Koalitionsverhandlungen ein Papier mit 13 Anregungen vorgelegt. Vieles wurde aufgenommen – mit einer Ausnahme: „Es war die letzten fünf Jahre kein Ehrenamt, sondern ein Fulltimejob. Gerade weil sich die Ehrenamtlichen der Verbände am Wochenende treffen.“ Deshalb fordert Weimer, den Posten eines Landesbehindertenbeauftragten künftig von vornherein als Hauptberuf auszuschreiben: „Ich bin als Ehrenamtlicher der letzte Mohikaner von 16 Bundesländern.“

Er will sich auch künftig behindertenpolitisch engagieren und in der Diskussion über das Bundesteilhabegesetz „nochmal richtig reinhängen“. Das Gesetz ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. Als Behindertenbeauftragter berät Weimer die Landesregierung. Er hat sich sechs „gemeinsamen Kernforderungen“ der Fachverbände angeschlossen.

Neben einigen positiven Aspekten des vorliegenden Referentenentwurfs überwögen die Mängel. So drohten etwa länderspezifische Lösungen für die Eingliederungshilfe. „Das kennen wir in Baden-Württemberg“, sagt Weimer. Statt wie früher zwei Landeswohlfahrtsverbände sind heute 44 Landkreise zuständig. So komme es dazu, dass es im einen Landkreis 60 persönliche Budgets gebe, die eigenständiges Wohnen ermöglichen, und im anderen keines. So genannte „Zwangspoole“ unterhöhlten überdies das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen. Es dürfe kein Druck in Richtung Einrichtungen entstehen.

Zwei Forderungen liegen Weimer besonders am Herzen. So müssten Leistungen für Menschen mit Behinderungen unabhängig vom Einkommen und Vermögen gewährt werden. Bisher dürfen sie und ihre Ehepartner nur 2600 Euro behalten. Sparen für den Urlaub, einen Elektrorollstuhl oder das Alter ist für Behinderte nicht drin – „das ist widersinnig“. Sein anderer Wunsch: Es war versprochen worden, dass jeder Jugendliche – mit welchem Handicap auch immer – künftig nach dem Jugendhilfegesetz behandelt wird wie alle anderen auch. Und nicht nach Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen.

Auf Soziales spezialisiert.

Gerd Weimer, 67, ist gebürtiger Tübinger. Er hat Politik, Geographie, Geschichte und Sport studiert. Der Gymnasiallehrer war Tübinger Gemeinderat und ist noch immer Mitglied des Kreistags. Von 1984 bis 2001 war er als Landtagsabgeordneter unter anderem hochschulpolitischer Sprecher und Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Von 1998 bis 2006 war Gerd Weimer in Tübingen Erster Bürgermeister und damit unter anderem für den Bereich Soziales zuständig. Danach unterrichtete er bis 2014 an einem Gymnasium in freier Trägerschaft. Den Landesvorsitz des Paritätischen gab er 2011 ab, als ihn die damalige grün-rote Landesregierung zum Landesbehindertenbeauftragten machte.