Hausbesetzung in Tübingen

Feier am Abend, Polizei am Morgen: Das besetzte Haus ist wieder geräumt

Mehrere Leute hatten am Freitag ein Haus Ob dem Viehweidle besetzt. Am nächsten Morgen wurde das Haus wieder geräumt.

08.12.2018

Von ST

„Ton Steine Scherben“ im frisch besetzten Haus Ob dem Viehweidle 21 in Tübingen. Bild: Volker Rekittke

„Ton Steine Scherben“ im frisch besetzten Haus Ob dem Viehweidle 21 in Tübingen. Bild: Volker Rekittke

Die Besitzer des Hauses waren am Morgen mit Polizeikräften erschienen, nachdem sie von einem Nachbarn verständigt worden waren. Das teilten die Hausbesetzer mit. In der Mitteilung heißt es weiter: Die Besitzer hätten eine schnelle Renovierung und Nutzung des Hauses zugesagt. „Auch sie seien interessiert, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.“ In der übrigen Nachbarschaft, so die Hausbesetzer, sei ihre Aktion positiv aufgenommen worden.

Das angeblich seit vielen Jahren leerstehende Haus war am späten Freitagabend von mehreren Leuten besetzt worden. Zuvor hatten „Ton Steine Scherben“ im Café Haag gespielt. Die Kultband des verstorbenen Frontmanns Rio Reiser ist vor allem in der Hausbesetzer-Szene noch immer legendär.

Die Besetzer protestieren gegen den Leerstand von mehr als 400 Wohnungen in Tübingen (städtischer Wohnraumbericht).

Bereits 1972 wurde in Tübingen ein Haus nach einem Konzert von „Ton Steine Scherben“ – damals in der Mensa – besetzt: das Epplehaus in der Karlstraße.

In einer Mitteilung der Hausbesetzer-Initiative „Positiv besetzt“ heißt es zu der neuen Aktion: „In Tübingen herrscht heute ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum. (…) Wir finden es skandalös, dass die Zweckentfremdungssatzung, die der Gemeinderat 2016 angesichts 156 dauerhaft leerstehender Häuser und ungezählter Wohnungen erlassen hat, seitdem nicht gegen die Eigentümer dieser Leerstände angewendet wurde.“ Außer dem Haus Viehweidle 21, so die Initiative, stünden unter anderem auch Häuser in der Gartenstraße, der Belthlestraße, der Seelhausgasse, im Schleifmühleweg, in der Naukler- und in der Eugenstraße leer.

„Es ist richtig, eigenmächtig ein Haus zu nutzen, das in Tübingen seit fast einem Jahrzehnt leersteht“, schreiben die Besetzer. „Es ist notwendig, Eigentumsverhältnisse, die kaum noch zu rechtfertigen sind und einen Markt, der sich rücksichtslos auf alle Lebensbereiche ausweitet, praktisch in Frage zu stellen.“

Die Besetzer forderten die Enteignung des Eigentümers des Hauses „auf Grundlage des Artikel 14 GG“. Sie wollen die konsequente Anwendung des Tübinger Zweckentfremdungsverbots, „Bußgelder für Eigentümer/innen, die ihre Häuser leerstehen lassen“ und die Übergabe weiterer leerstehender Häuser an Wohnungssuchende.

Weitere Forderungen sind die Enteignung und Kommunalisierung der großen Immobilienunternehmen wie Vonovia, mehr bezahlbarer, „dem Immobilienmarkt entzogener“ Wohnraum, den Bewohner in Selbstverwaltung führen und neue Konzepte in der Stadtentwicklung. Außerdem wollten die Besetzer eine grundlegende Diskussion darüber, „wie wir in der Stadt zusammenleben möchten und wem die Stadt gehören soll“.

„In wenigen Städten in Deutschland ist der Wohnungsmarkt so angespannt wie in Tübingen“, schreiben die Besetzer. Für viele Menschen bedeute das, Existenzfragen wie diesen ausgeliefert zu sein: „Kann ich mir die Miete noch leisten, wenn unsere Wohnung saniert wird? Wo ziehe ich hin, wenn meine Kinder größer werden? Was mache ich, wenn ich nach Monaten noch immer kein Zimmer gefunden habe? Und wenn ich eines finde und bereit bin, die absurde Miete zu bezahlen – trage ich dann zur stetigen Verschlimmerung der allgemeinen Situation bei?“

Deshalb sehe man es „als bodenlosen Zynismus“, wenn mitten in Tübingen Häuser leer stünden. „Deshalb war es berechtigt, als im Oktober dieses Jahres wieder gefragt wurde: Wo bleiben eigentlich die Hausbesetzer/innen?“

Wohnen ist ein Menschrecht: Ein Kommentar von TAGBLATT-Redakteur Volker Rekittke

Oberbürgermeister Boris Palmer nimmt Stellung

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nahm am Samstag aktuell Stellung zu der neuen Tübinger Hausbesetzung. Er sagt: „Der Leerstand von Wohngebäuden ist ein Ärgernis. Wo die Stadt dagegen vorgehen kann, tut sie es. Besetzungen sind und bleiben dennoch illegal.“