Holocaust

Nach dem Tagebuch der Anne Frank: Die Schicksale

Was passierte mit Anne Frank und den anderen im Hinterhaus Untergetauchten „nach dem Tagebuch“? Ein Historiker erzählt die Schicksale.

18.11.2021

Von Jürgen Kanold

Berlin. Voller Stolz hatte Reichskommissar Arthur von Seyss-Inquart im September 1943 die Stadt Amsterdam für „judenfrei“ erklärt – ein grässliches Wort. In einem Hinterhaus in der Prinsengracht 263 versteckten sich zu jener Zeit noch die Familien Frank und van Pels sowie der Zahnarzt Fritz Pfeffer vor dem Zugriff der die jüdische Bevölkerung ermordenden Nationalsozialisten. Dann kam am 4. August 1944 ein der SS unterstelltes Kommando der Sicherheitspolizei und verhaftete nach einer Razzia auch diese acht Untergetauchten.

Die 15-jährige Anne Frank gehörte dazu, das vielleicht bekannteste Holocaust-Opfer. Sie hatte im Juni 1942 ein Tagebuch begonnen: „Ich höre immer lauter den heranrollenden Donner, der auch mich töten wird . . . und doch denke ich, wenn ich meinen Blick gen Himmel richte, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird.“ Das Mädchen schreibt von der Sehnsucht nach Leben, mit unerschütterlichem Optimismus, auch von ihren Ängsten; und sie schildert authentisch den Alltag ihren jüdischen Familie.

Nur ihr Vater Otto Frank überlebte den Holocaust, nach der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee begann ein langer Weg zurück nach Hause. Seine Sekretärin Miep Gies aber hatte viele hundert beschriebene Blätter Annes gerettet: 1947 erschien „Das Tagebuch der Anne Frank“, es wurde in mehr als 70 Sprachen übersetzt, vielfach verfilmt: eines der berühmtesten Bücher der Welt.

Dabei erzählt das Tagebuch noch gar nicht die unfassbare Leidensgeschichte der Juden in den Konzentrationslagern: Misshandlungen, Hunger, Kälte, Krankheiten und andere Gräuel. Der letzte Eintrag stammt vom 1. August 1944 – und was geschah danach? Wenige Details sind bekannt. „Der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Juden nahm den Menschen nicht nur ihre Würde und ihr Leben, sondern war auch ein bewusster Versuch, jegliche Spuren auszulöschen, die etwas über die individuellen Schicksale, Erlebnisse und Erinnerungen der Opfer berichten könnten“, schreibt der niederländische Historiker Bas von Benda-Beckmann. Jedes noch so kleine Körnchen, das mehr Einblick in die Schicksale vermittle, sei deshalb von großem Wert auch in moralischer und menschlicher Hinsicht.

Benda-Beckmann arbeitet für das Anne Frank Haus in Amsterdam, er hat Forschungsberichte ausgewertet und noch einmal neu die Spur aufgenommen, um möglichst viel über die Untergetauchten aus dem Hinterhaus herauszufinden: „Nach dem Tagebuch“ heißt der erschütternde, jetzt auf Deutsch erschienene Band, der auch mit 161 Fotos und Abbildungen von den brutal ausgelöschten Leben erzählt.

Viel zu lange habe sich das Geschichtswissen zu großen Teilen nur aus Täterquellen genährt, schreibt Hans-Joachim Lang in seinem Vorwort. Benda-Beckmann seziere gleichwohl auch das „destruktive Geflecht“ der verschiedenen Konzentrationslager: „Lehrstoff für eine empathische Aneignung von unvergessbarer Wirklichkeit“.

In der Tat: Eben weil der Historiker nicht romanhaft diese Schicksale ausmalt, sondern sehr sachlich – mit allen verfügbaren Berichten der Überlebenden als Zeugen – die Abläufe, die Situation in den Lagern, die fortwährenden Selektionen schildert und dazu die historischen Hintergründe liefert, hat dieses Buch eine deprimierende wie aufklärerische Wucht. Und so fern sind die Ereignisse noch nicht – die heute 80-Jährigen, die Groß- und Urgroßelterngeneration, sie wurden noch geboren, als die Nazis die Leichen der Juden in den Krematorien verbrannten.

Nach ihrer Verhaftung kamen die Untergetauchten aus dem Hinterhaus in das Amsterdamer Untersuchungsgefängnis und dann in das Durchgangslager Westerbork. Am 3. September 1944 ging von dort aus der letzte große Deportationstransport nach Auschwitz. In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1944 traf der Zug dort an der Rampe ein. Dass alle acht Untergetauchten, auch die erst 15-jährige Anne sowie Otto Frank und Fritz Pfeffer, beide über 50, nicht sofort ins Gas geschickt wurden, lasse sich nur damit erklären, dass ein erhöhter Druck auf die SS bestanden habe, ausreichend Arbeitskräfte zu liefern, schreibt Benda-Beckmann. Sklaverei statt Massenvernichtung. Wer aber krank wurde, war verloren.

Hermann van Pels wird am 3. Oktober 1944 in einer Gaskammer von Auschwitz ermordet. Edith Frank stirbt am 6. Januar 1945 entkräftet in Auschwitz-Birkenau, ihre Töchter Anne und Margot Frank sterben im Februar 1945 an Flecktyphus in Bergen-Belsen. Fritz Pfeffer findet im Dezember 1945 in Neuengamme den Tod, erkrankt an Ruhr. Auguste van Pels stirbt im April 1945 auf einer weiteren Deportation von Raguhn (bei Halle) nach Theresienstadt. Peter van Pels geht im Januar 1945 auf den Todesmarsch von Auschwitz nach Mauthausen, er ist 18 Jahre alt, unter unmenschlichsten Bedingungen lebt er noch vier Wochen im „Sanitätslager“, er stirbt am 10. Mai 1945, vier Tage, nachdem die US-Armee das Lager befreit hatte.

Nur Otto Frank überlebt.

Der Romanentwurf „Liebe Kitty“

Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist ein Amalgam aus verschiedenen Quellen, es wurde von ihrem Vater zusammengestellt. Anne hatte im Mai 1944 begonnen, das Tagebuch literarisch zu überarbeiten, um einen Roman daraus zu machen. Die 15-Jährige wollte Schriftstellerin werden. Parallel führte sie ihr Tagebuch weiter. Anne Franks Romanentwurf in Briefen ist unter dem Titel „Liebe Kitty“ ebenfalls im Secession Verlag erschienen; 208 Seiten, 18 Euro.