Tübingen/Rottenburg

Nach dem Erdbeben: So hilft die Region

Großes Engagement in der Region nach den verheerenden Erschütterungen in der Türkei und Syrien: Menschen aus Tübingen, Reutlingen und Rottenburg sorgen sich um Familie und Freunde.

07.02.2023

Von unseren Redaktionen

In der Reutlinger Autogalerie sortieren Helferinnen und Helfer die zahlreichen Spenden. Bild: Horst Haas

In der Reutlinger Autogalerie sortieren Helferinnen und Helfer die zahlreichen Spenden. Bild: Horst Haas

Die Halle der Autogalerie in Reutlingen, in der sonst Autos stehen, ist am Dienstag fast komplett leergeräumt. Rund 30 Menschen sind seit 9 Uhr damit beschäftigt, Säcke und Kisten zu sichten. „Wir sind eine von fünf Sammelstellen, die vom türkischen Generalkonsulat in Stuttgart genehmigt worden sind“, sagt Ahmet Sari, ein Gastronom. Wie viele hier ist er mit Mustafa Karakoc, dem Inhaber der Autogalerie, befreundet.

Ahmet Sari erwartet, dass im Lauf des Tages noch mehr ehrenamtliche Helferinnen und Helfer eintreffen: „Wir wollen den Menschen in der Türkei schnell helfen.“ Die meisten haben türkische Wurzeln, aber auch Leute aus Rumänien und Mazedonien seien dabei, sagt Saris Bruder Furkan. Die Hilfsgüter kommen aus vielen verschiedenen Landkreisen – Tübingen, Reutlingen, Esslingen, Göppingen, Balingen, Böblingen.

Benötigt werden vor allem Hygiene-Artikel, Windeln, Feuchttücher, Kinder- und Babykleidung. „Aber bei Kleidung nur neue Sachen, wir müssen hier auch viel Müll aussortieren“, sagt Ahmet Sari. Am Montag hatten die Organisatoren Aufrufe in Sozialen Medien gestartet, rasend schnell seien Hilfsgüter in Reutlingen eingetroffen. Bei der Autogalerie in der Stuttgarter Straße 39/1 in Reutlingen können die Spenden abgegeben werden. „Aber nur in Kartons verpackte Sachen mit einer Inhaltsliste“, sagt Karakoc.

Sein Hauptgeschäft ist eine Lastwagen-Spedition. Zwei seiner Laster stellt er für die Hilfstransporte zur Verfügung, der erste soll am Donnerstag oder Freitag losfahren. Am Steuer will dann Furkan Sari sitzen. „Dort sind von der staatlichen Katastrophen-Hilfsorganisation Afad in der Türkei Sammelstellen eingerichtet worden, in der die Hilfsgüter aus dem Ausland angeliefert werden“, sagt er. Angedacht ist auch, kleinere Sprinterbusse einzusetzen, die direkt die Epizentren ansteuern sollen – etwa Malatya. Dann muss Karakoc ans Telefon, die Sammelstelle in Stuttgart meldet sich. Dort sind so viele Spenden eingegangen, dass schnell ein Transport auf die Strecke gehen kann. Der Unternehmer sagt zu, dass er einen dritten LKW zur Verfügung stellt, der gleich losfahren soll.

Auch von Rottenburg aus machte sich am Dienstag ein Hilfstransport auf den Weg in die Erdbebenregion. Über Whatsapp hatte sich ein Spendenaufruf wie ein Lauffeuer verbreitet – hunderte Leute brachten warme Klamotten, Babynahrung, Windeln, Kosmetik und mehr zum Zentrum des Türkisch-Deutschen Freundschaftsvereins beim Güterbahnhof. Initiatorin Hatice Yildirim war überwältigt von der Hilfsbereitschaft. Dutzende Freiwillige halfen beim Sortieren und Verpacken der Hilfsgüter, die nach einer Zwischenstation in Balingen ihre Reise in die Türkei antraten (einen ausführlichen Bericht gibt es in der „Rottenburger Post“).

Mitten im Epizentrum des Bebens, der Provinz Kahramanmaras, liegt der Ort Pazarcik. Der Rottenburger Gemüse- und Obsthändler Mustafa Bati wurde dort geboren. „Das ist meine Stadt“, sagt er dem TAGBLATT am Telefon. Doch sie sei nicht wiederzuerkennen: „Alles ist platt, es sieht aus wie nach einer Bombenexplosion.“ Erdbeben seien in dieser Region keine Seltenheit. „Aber das ist extrem.“

Zum Glück hole er seine Mutter im Winter immer nach Deutschland. Sie ist also in Sicherheit. Sein Onkel und seine Cousinen, die in der Erdbebenregion leben, sind wohlauf, berichtet Bati. Er wisse aber auch von Bekannten, die sich Verletzungen zugezogen haben. Oder ums Leben kamen. Der Kontakt übers Handy ist sporadisch, da die Stromversorgung weitgehend zusammengebrochen ist. „Es ist sehr schlimm.“ Und so viele würden ja noch vermisst. Was ist mit ihnen? „Es sieht nicht gut aus.“ Zumal praktisch alle Gebäude, die noch stehen, beschädigt sind. Nirgends fühlen sich die Menschen noch sicher. „Die Leute haben Angst, die gehen nicht zurück in die Häuser.“ Die Menschen halten sich im Freien auf, sagt Bati. Sie machen draußen Feuer, schlafen in Autos. Wer ein Zelt hat, zeltet.

„Man fühlt sich so hilflos“, sagt Bati. „Man wäre gerne bei den Menschen und würde helfen – aber man kann nicht.“ Das einzig Sinnvolle, was es jetzt zu tun gibt, sei spenden: Geld und Sachspenden, vor allem solche, die vor der Kälte schützen. „Es ist dort jetzt so kalt wie bei uns hier“, weiß Bati, „es liegt Schnee, es regnet.“

Der Tübinger Kurde Aydin Özer hat Familie in Adiyaman: „Meine 75-jährigen Eltern und mein Bruder haben letzte Nacht im Auto geschlafen“, sagt Özer. Sie wollten nicht mehr zurück in ihr Haus – so wie viele Bewohner der Stadt Besni in der türkisch-kurdischen Provinz in Südostanatolien. Seit dem Erdbeben ist Özer in ständigem Kontakt mit zahlreichen Familienangehörigen in der Türkei. „Es ist sehr kalt dort“, sagt er. Viele Menschen würden an Feuer im Freien übernachten. Es gebe nicht genug Decken und auch Zelte würden fehlen.

Schwer hat es auch die Zwei-Millionen-Stadt Gaziantep getroffen, die sechstgrößte Stadt der Türkei. Dort beerdigten Verwandte von Aydin Özer am Dienstag ihre Toten – darunter die 24-jährige Tochter seines Onkels. „Sie haben ihren Körper mit den Händen aus den Trümmern gegraben.“ Erst vor einem halben Jahr hatte die junge Frau geheiratet. Im Garten von Özers Schwager würden gerade bestimmt 50 Menschen unter freiem Himmel lagern, dicht an dicht gedrängt. Denn selbst wenn die Häuser noch stehen: „Hinein traut sich grade niemand.“ Überall seien Risse zu sehen, erzählen ihm seine Verwandten. „Gas, Wasser, Strom – alles ist zusammengebrochen“, berichtet Özer. Und es fehle an allem, neben Zelten, Decken und Heizmaterial auch an Wasser und Nahrung.

Die Stadt Dschenderes in der nordsyrischen Region Afrin liegt unweit der türkischen Grenze. Auch hier hatte das Beben verheerende Folgen. Der Nehrener Youssef Kanjou, der als Archäologe an der Uni Tübingen arbeitet, kommt aus Aleppo – während des Krieges sind viele seiner Verwandten nach Dschenderes geflüchtet. „Ich habe immer noch viel Familie da“, sagt Kanjou. „Wir haben nicht viele Informationen, sie haben dort kein Internet und keinen Strom.“

Immerhin hatte es direkt nach dem Erdbeben kurz Internet gegeben, so dass Kanjou von seiner Familie gehört hat. „Sie sagten mir, sie sind okay.“ Einer seiner Cousins war zunächst unter den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes festgesessen. „Mein anderer Cousin hat ihn 20 Stunden lang gesucht. Zwei Leute konnte er bergen, fünf weitere Leute sind immer noch unter den Gebäuden.“ Wegen der großen Zerstörung benötigen die Menschen vor Ort alles: „Material und auch Maschinen, um die Leute unter den Gebäuden zu bergen.“

Das Problem, so Kanjou, sei, dass es noch immer keine Hilfe für die betroffenen Regionen in Nordsyrien gebe. „Nur die Familien suchen ihre Familien. Es gibt keine Hilfe von NGOs, keine Hilfe von der Regierung.“ Die Spenden an die syrische Regierung kämen in Nordsyrien nicht an.

Einige Syrerinnen und Syrer aus der Region fordern eine zeitweilige Aussetzung oder gänzliche Beendigung der internationalen Sanktionen auf Syrien, um die Hilfe für die Bevölkerung zu erleichtern. So etwa Salwa Saada aus Tübingen. Sie sagt: „Die Sanktionen haben die Politiker nie getroffen, sie haben alles. Nur die armen Leute sind davon betroffen, obwohl die Sanktionen dafür gedacht sind, die Politiker zu bestrafen, nicht das arme Volk.“ Durch die Sanktionen hätten viele Menschen in Syrien keinen Strom und kein Gas; nach dem Erdbeben sei das umso fataler.

Ahmad Salah, Student an der Hochschule Reutlingen, sieht das anders. „Sanktionen sind nicht gegen das Volk, sie sind sehr gezielt gegen das Regime.“ Und das sei auch wichtig: „In der Türkei gibt es eine Regierung, die den Leuten hilft und sie aus den Trümmern zieht. In Syrien ist das umgekehrt: Unsere Regierung tötet uns.“

Salah ist momentan in Antalya in der Türkei. Eigentlich hatte er geplant, in der kommenden Woche nach Gaziantep zu reisen: Gemeinsam mit einem Kommilitonen möchte er eine Zeltschule in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien gründen und wollte dafür während seiner Reise alles in die Wege leiten (wir berichteten). Nun sind die Erdbeben-Folgen in Gaziantep groß. Salah sagt: „Jetzt da hin zu fahren halte ich für schwierig. Ich möchte nicht sagen, dass ich hier bin, um eine Schule zu bauen, wenn die Leute kein Dach über dem Kopf haben. Er überlegt jetzt, eine Spendenkampagne für die Erdbebenopfer auf Betterplace zu starten.

Er hofft, dass die Katastrophe dazu führen wird, dass es den syrischen Flüchtlingen in der Türkei in Zukunft besser gehen wird: „Das syrische Blut hat sich jetzt mit dem türkischen Blut gemischt. Ich hoffe, dass die türkische Regierung erkennt: Katastrophen machen vor niemandem Halt.“

Der Arabischlehrer Abdallatif Allatif war früher Erster Vorsitzende der Tübinger Syrienhilfe. Der Verein hat sich aufgelöst und kann daher auch keine Hilfsaktion koordinieren. Allatif hat Familie in der Stadt Al-Bab im Nordwesten Syriens. Seine Schwester und die beiden Familien ihrer Kinder hatten gemeinsam in einer Wohnung gelebt. Beim Erdbeben ist das Haus eingestürzt; von einem auf den anderen Tag sind die drei Familien obdachlos geworden. „Sie schlafen jetzt in einem kleinen Zelt“, sagt Allatif. Auch er sagt, dass Hilfe in Nordsyrien kaum ankommt: „Überlebende helfen hier Überlebenden: Im Norden sind wenige Hilfsorganisationen vor Ort, das ist eine große Misere.“

Der Tübinger wünscht sich, dass die EU einen Hilfskorridor über die Türkei nach Nordsyrien einrichtet, um den Menschen dort zu helfen. „Die Realität ist: Es gibt keine Hilfe für Nordsyrien“, sagt Allatif.

Mitarbeit: Thomas de Marco, Miri Watson, Volker Rekittke, Philipp Koebnik

So helfen Sie am besten: die Spenden aufteilen

Wer möchte, dass seine Spende möglichst alle Betroffenen des Erdbebens erreicht, sollte in Erwägung ziehen, an verschiedene Organisationen zu spenden.

Die Sammelaktionen in Reutlingen und Rottenburg etwa helfen den Erdbebenopfern in der Türkei. Finanzielle Spenden bringt etwa die Stuttgarter Organisation Stelp in die Türkei. Außerdem gibt es Spendensammlungen, die gezielt für die betroffenen Kurdinnen und Kurden Geld sammeln: So etwa der Kurdische Rote Halbmond, Heyva Sor a Kurdistanê.

Damit auch in allen Gebieten Syriens Spenden ankommen, empfiehlt es sich, an das Deutsche Rote Kreuz zu spenden, das mit unterschiedlichen Partnern vor Ort zusammenarbeitet – auch im Norden des Landes.