Ein Zucken an der Kopfhaut

Mit punkt- und zeitgenauer Hirnstimulation soll Depression behandelt werden

Das Gehirn tickt bei jedem Menschen anders. Diese Besonderheit erschwert die Therapie nach Schlaganfällen, bei Epilepsie, Parkinson, Tinnitus und auch bei Depression. Forscher des Tübinger Klinikums sind nun mit einer neuartigen, nicht-invasiven und völlig schmerzfreien Methode der Behandlung diesen Erkrankungen auf der Spur.

24.08.2016

Von Ulla Steuernagel

Brigitte Zrenner hält hier die Magnetspule an den mit EEG-Elektroden verkabelten Kopf der Probandin. Die Nervenzellen werden mit neuartiger Präzision stimuliert. Bild: Sommer

Brigitte Zrenner hält hier die Magnetspule an den mit EEG-Elektroden verkabelten Kopf der Probandin. Die Nervenzellen werden mit neuartiger Präzision stimuliert. Bild: Sommer

Tübingen. Mit „Transkranieller Magnetstimulation“ (TMS) werden Patienten schon seit Jahrzehnten behandelt. Transkraniell bedeutet, dass durch die geschlossene Schädeldecke therapiert wird. Weder Anästhesie noch Operation sind also erforderlich.

Spezielle Areale des Gehirns werden von außen durch eine Magnetspule für tausendstel Sekunden mit Strom stimuliert. Damit können krankhafte Erregungszustände normalisiert werden. Diese Methode kennen Mediziner zwar schon lange, aber sie erzielten mit ihr nicht durchgängig gute Erfolge. Bislang war es nämlich nicht gelungen, die Hirnstimulation auf die individuelle Hirnaktivität abzustimmen. Denn, so erklärt Prof. Ulf Ziemann, Chef der Neurologischen Klinik: „Das Gehirn ist hochdynamisch und ändert sich ständig.“ Daher habe man nicht in Echtzeit auf die Aktivitäten und Verbindungen in den verschiedenen Hirnarealen reagieren können.

Das EEG (Elektroenzephalogramm) misst zwar die Erregungszustände und Flauten des Gehirns und hält diese in oszillierenden Kurven fest, doch da die Schwingungen im menschlichen Zentralorgan in Millisekunden geschehen, kam kein noch so starker Computer hinterher. Bisher erfolgte die Hirnstimulation daher in einem vorgegebenen Takt, der aber nicht unbedingt den richtigen Schwingungspunkt erwischte.

Was nun 15 Neurologen, Physiker und Psychiater in drei Jahren am Tübinger Klinikum in Kooperation zwischen Neurologischer und Psychiatrischer Klinik entwickelt haben, bedeutet für Ziemann, „einen revolutionären Schritt“ in der Behandlung verschiedener Krankheiten.

Erst mit einem Hochleistungsrechner, der in weniger als drei tausendstel Sekunden das EEG analysiert und Höhen oder Täler in all ihrer Unregelmäßigkeit vorausberechnet, ist eine simultane Stimulation möglich geworden. „Eine geniale Technologie“, lobt Ziemann, die insbesondere dem Neurologen Dr. Christoph Zrenner zu verdanken sei. So kann nun etwa nach einem Schlaganfall die Erregbarkeit der Nervenzellen punktgenau erhöht werden. „Vergleichbar ist dies mit einer Schaukel“, so Dr. Brigitte Zrenner, Fachärztin für Psychiatrie. „Man stößt sie an, um sie stärker schwingen zu lassen.“ Am effektivsten sei dies am höchsten Punkt des Ausschlags.

Die Tübinger Forscher stellten ihre Untersuchungen bis jetzt nur an gesunden Probanden an. Nun wollen sie eine erste Patientenstudie folgen lassen und gezielt die Wirkungsweise ihrer neuartigen TMS-Methode an Menschen überprüfen, die an Depression erkrankt sind.

Bei Depression verharrt das linke Vorderhirn in einem Zustand der Untererregbarkeit. Eine Magnetspule wird mit einem Navigationsgerät an diese unterversorgte Stelle geleitet, um dann über drei Minuten hinweg im exakt richtigen Moment, den Puls zu setzen und die Nervenzellen zu stimulieren.

Mit den berüchtigten Elektroschocks, mit denen man früher Psychiatriepatienten zu therapieren versuchte, hat das nichts zu tun. „Der Proband“, so beruhigt der Neurologe Dr. Florian Müller-Dahlhaus, „spürt dabei nur ein kurzes Zucken auf der Kopfhaut.“ Die Stärke der Stromzufuhr wird dem Patienten über einen motorischen Reflex an seiner rechten Hand angepasst.

Innerhalb der nächsten fünf Jahre, so hofft Ziemann, könnte seine „lang gehegte persönliche Vision“ schon in der Behandlungspraxis bei depressiven Patienten angewendet werden. Er ist zuversichtlich, dass sich die neue Behandlungsmethode auch rechnen wird: „In Europa werden jährlich 64 Milliarden Euro für neurologische und psychiatrische Erkrankungen ausgegeben.“

Studienteilnehmer mit Depression gesucht

Für ihre Studie über die neuartige Hirnstimulation sucht die Forschergruppe an der neurologischen Abteilung des Klinikums Patienten zwischen 18 und 65 Jahren, die an einer Depression erkrankt sind. Weder müssen sie dies mit einem Arztbrief nachweisen noch aktuell in therapeutischer Behandlung sein. Wichtig ist nur, wenn eine Psychotherapie und eine medikamentöse Behandlung erfolgen, sollten sie schon längere Zeit bestehen. Interessierte, die an der Studie teilnehmen wollen, werden zuvor getestet. Wer mitmacht, muss mit drei Sitzungen inklusive Vorbereitungs- und Nachbereitungszeit von je drei bis vier Stunden im Abstand von je einer Woche rechnen. Interessierte können sich unter tmsstudie@klinikum.uni-tuebingen.de oder direkt bei

Brigitte Zrenner, Telefon 07071/2981948, melden.