Pandemie

Mit dem „Tübinger Weg“ gegen Corona

Alle Welt spricht vom Schutz der Risikogruppen. In Tübingen wird schon seit Monaten vieles getan, um das Virus von Senioren und aus Pflegeheimen fernzuhalten. Nun macht das Vorbild Schule.

04.12.2020

Von LISA MARIA SPORRER

Kostenlose Schnelltests für alle: Auch das ist ein Baustein in der Tübinger Strategie gegen Corona, die wesentlich auf Lisa Federle (rechts) und Boris Palmer zurückgeht. Im Bild nimmt die Notärztin einen bei Tübingens OB.  Foto: Ulrich Metz

Kostenlose Schnelltests für alle: Auch das ist ein Baustein in der Tübinger Strategie gegen Corona, die wesentlich auf Lisa Federle (rechts) und Boris Palmer zurückgeht. Im Bild nimmt die Notärztin einen bei Tübingens OB. Foto: Ulrich Metz

Tübingen. Dass Tübingen als erste deutsche Stadt den „schwedischen Weg“ gehe, stimme nur hinsichtlich eines einzigen Aspekts, sagt OB Boris Palmer (Grüne), nachdem nicht nur die Bild-Zeitung den Sonderweg der Universitätsstadt in der Corona-Krise mit Schweden verglichen hatte. Diesen einzigen Aspekt benennt Palmer so: „Dass wir unser Konzept zum Schutz der Älteren in der Stadt auf Freiwilligkeit und auf Appellen aufbauen und nicht auf Bußgeldern und Verboten.“ Ansonsten habe man nichts mit Schweden gemeinsam.

Wenn es um alternative Strategien zu allgemeinen Lockdowns geht, ist immer wieder vom Schutz der Risikogruppen die Rede; unter anderem der Virologe Hendrik Streeck fordert, Barrieren in der Gesellschaft einzurichten, die besonders gefährdete Gruppen besser schützen. In Tübingen wird das seit Monaten probiert. Funktioniert es? Und kann die Universitätsstadt zum Vorbild für andere werden?

Am 1. November hatte sich die Tübinger Stadtspitze mit dem Uniklinikums-Chef und der Notärztin Lisa Federle mit einem „Tübinger Appell“ an die Bevölkerung gewandt. Palmer rief zu „Bürgersinn und Verantwortung“ auf – und stellte weitere Konzepte zum Schutz der Älteren vor: Zeitfenster für die Risikogruppen für Einkäufe, kostenlose FFP2-Masken für Menschen über 65 und ein Anrufsammeltaxi, damit Senioren nicht mehr die teils vollen Busse nutzen müssen.

Die aktuellen Infektionszahlen geben der Tübinger Strategie recht: Während die Landesregierung wegen des hohen Infektionsgeschehens aktuell Ausgangsbeschränkungen für Hotspots plant, gehen die Infektionszahlen im Kreis Tübingen seit Wochen kontinuierlich zurück. Und während das Virus sich in der zweiten Welle erneut in vielen Altenheimen ausbreitete und dutzende Todesfälle zu beklagen waren, wurde bisher kein einziger Corona-Fall in den Tübinger Einrichtungen registriert. Das, sagt Lisa Federle, habe ganz sicher auch etwas mit der Teststrategie zu tun.

Schon im März, kurz nachdem im Südwesten der erste Corona-Fall aufgetreten war, nahm die Notärztin mit ihrer mobilen Arztpraxis in Tübingen Abstriche von Reiserückkehrern. Dass die „Tübinger Teststrategie“ Vorbild werden sollte , ist in erster Linie Lisa Federle zu verdanken. Auch ihr ging es um die Risikogruppe, die Alten.

Anfang April parkte die mobile Arztpraxis vor einem Tübinger Pflegeheim. Verdachtsfälle gab es keine, auch keine bestätigten Covid-19-Infektionen. „Aber um uns da sicher zu sein, müssen wir einfach testen“, begründete Federle seinerzeit ihr Vorhaben, alle Pflege- und Alteneinrichtungen im Kreis anzufahren und Abstriche von Bewohnern und Mitarbeitern zu nehmen. „Alte Menschen dürfen nicht sterben, nur weil das keiner kontrolliert“, sagte sie – und legte sich damit schon früh mit dem Stuttgarter Sozialministerium an. Nicht nur die kassenärztliche Vereinigung weigerte sich damals, die präventiven Tests zu bezahlen, auch Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) wollte keine offizielle Testempfehlung für Alteneinrichtungen aussprechen.

Als nach den Sommerferien die Infektionszahlen stiegen, reagierte Tübingen erneut schnell: Nach ergebnislosen Anfragen Palmers bei Bund und Land stellte die Stadt in Eigenregie 250?000 Euro im Haushalt bereit, um zumindest das Personal von Alten- und Pflegeheimen im 14-Tage-Rhythmus auf Corona zu testen. „Die Achtung der Menschenwürde verbietet aus meiner Sicht falsche Sparsamkeit an dieser Stelle“, sagte Palmer. Am 7. September startete das Projekt, das von Federle durchgeführt wurde.

„Tatsächlich sind 22 Prozent der Menschen über 65 Jahre alt, und in dieser Altersgruppe haben wir 85 Prozent der Todesfälle zu beklagen. Das heißt, wir haben ein ziemlich einfaches Merkmal: Alter“, sagt Palmer. Eine Ausgrenzung, wie manche kritisierten, sieht er in den Gegenmaßnahmen nicht, vielmehr habe er viele Dankesbriefe von Älteren und auch sehr berührende Mails als Dank erhalten. „Wir müssen uns einfach klar machen: Bei Menschen über 80 gab es 500 mal mehr Todesfälle als bei denen unter 40. Dieses Virus ist extrem altersdiskriminierend. Darüber klagen nutzt nichts“, sagt Palmer. Inzwischen schauen immer mehr Medien und Politiker genau hin, was in Tübingen passiert.

Momentan steht Federle mit dem Arztmobil fast täglich auf dem Tübinger Marktplatz, verteilt kostenlose FFP-Masken und macht Schnelltest-Abstriche. Ursprünglich sollte es bei diesem Projekt wieder um die Alten gehen, jene, die Zuhause leben und nicht besucht werden, weil Angehörige Angst haben, eine unentdeckte Infektion mitzubringen. Aber das Projekt, das über die Weihnachtsspendenaktion des „Schwäbischen Tagblatts“ in Tübingen finanziert wird, ist mittlerweile ein bürgerschaftliches Projekt mit Modellcharakter fürs Land geworden.

Nachdem Federle vor Wochen mit Sozialminister Manfred Lucha scharf ins Gericht gegangen war und dem Sozialministerium vorgeworfen hatte, zu spät und zu wenige Schnelltests für die Altenheime bestellt zu haben, will Lucha nun nach einem Vier-Augen-Gespräch mit der Ärztin nicht nur Altenheimen und Pflegeeinrichtungen möglichst schnell im Notfall Antigen-Schnelltests aus der Landesreserve zukommen lassen – das Projekt „Schnelltests für alle“ soll nun landesweit Schule machen. In mehr als 25 Städten will Lucha an Heiligabend auf zentralen Plätzen kostenlose Schnelltests anbieten lassen. „Ich habe mich mit Dr. Federle darauf verständigt, dass wir diese vorbildhafte vorweihnachtliche Aktion landesweit übernehmen wollen“, so Lucha. Denn, das könne man von Tübingen lernen: In der Corona-Pandemie müsse einem wirksamen Schutz der vulnerablen Gruppen oberste Priorität zukommen.