Besuch im Atelier

Mit Kopf und Rumpf

Der Künstler Joachim Aßmann aus Nehren hält Corona mit kleinen Skulpturen in Schach.

15.01.2021

Von Susanne Mutschler

Künstler Joachim Assmann mit Skulpturen aus seiner fünfteiligen Reihe, der er den Namen „Menschlichkeiten“ gab. Diese Figur ist eingezwängt zwischen Vorschriften und Regeln. Bild: Klaus Franke

Künstler Joachim Assmann mit Skulpturen aus seiner fünfteiligen Reihe, der er den Namen „Menschlichkeiten“ gab. Diese Figur ist eingezwängt zwischen Vorschriften und Regeln. Bild: Klaus Franke

Im Regal des Nehrener Künstlers Joachim Aßmann stehen handgroße hölzerne Gesellen ohne Arme und Beine. Beim ersten Hinschauen könnten sie Miniaturvorlagen für Stelen und Skulpturen im öffentlichen Raum sein. Doch die „Menschlichkeiten“, wie Aßmann seine fünfteilige Serie nennt, wollen keine wuchtigen Zeichen sein. Seine auf Kopf und Leib reduzierten Figuren berichten von den menschlichen und allzu menschlichen Reaktionen auf die Virusbedrohung, und das tun sie mit einem Augenzwinkern.

Die bemalten kleinen Wesen sind in der zeitlichen Abfolge ihres Entstehens aufgestellt und zeichnen so den Reflexions- und Verarbeitungsprozess des Künstlers nach. „Begrenzungen“ heißt die erste schmale Gestalt. Sie hat ein Goldköpfchen, aber absichtlich kein Gesicht. „Denn das könnte jeder von uns sein“, erklärt Aßmann. Das Podest, auf dem sie steht, ist von hölzernen Zaunpfählen umgeben. Sie stehen für die vielen Regeln und Anweisungen, die seit der Pandemie unser Kommen und Gehen beschränken. „Beieinander“ nennt der Künstler ein weißes Figurenpaar.

Die beiden sind aus demselben Holz geschnitzt und so schon durch das Material vereint. Zusätzliche Bindung schafft ein gemeinschaftliches Ringelkostüm aus blauen Querlinien. „In Coronazeiten muss man zusammenhalten“, sagt er dazu. Sein „Zukunftsdeuter“ hat einen lustig gelb gepunkteten Leib und schöne blaue Streifen im Gesicht, aber sichtlich schlechte Laune. Man sieht ihm an, dass ihm seine Vorhersagen nicht gefallen. „Es könnte ein Virologe sein“, deutet Aßmann an.

Nebenan erklärt sein „Nebelspalter“ der Menschheit, was richtig und falsch ist. Der graue unförmige Holzkopf sitzt auf einer glatten Specksteinbüste, die Augen blicken aufmerksam nach vorne. Einen Mund braucht er nicht, denn er symbolisiert die sozialen Medien, ihren Einfluss und ihre widerstreitenden Einschätzungen. Vielleicht ist sein Kopf deshalb abnehmbar. Die fünfte Figur steht für die aktuellen Widrigkeiten im Virus-bedrängten Leben. Ein 3,5 Kilo schwerer Specksteinklotz ist von allen Seiten durchdrungen von hölzernen Spießen. Er ähnelt einem schwarzen Spickbraten und weiß alles über Einsamkeit und Verletzlichkeit.

Speckstein ist zurzeit Aßmanns Lieblingsmaterial. Doch auch unter den übrigen Werkstoffen und künstlerischen Techniken gibt es nicht viel, was er noch nicht ausprobiert hat, und es gibt nicht sehr viele Themen, an denen er sich noch nicht abgearbeitet hat. „Ich habe so viele Ströme in mir, die alle parallel laufen“ sagt er.

Joachim Aßmann, 1948 geboren, wuchs in Tübingen auf. Mit 17 Jahren probierte er es mit der christlichen Seefahrt, beließ es aber nach fünf Wochen bei einer einmaligen Route von Hamburg nach Virginia. Liebend gerne hätte er in Ulm ein Designstudium begonnen, doch die Akademie schloss vorzeitig. Danach habe ihn seine Familie überzeugt, „etwas Rechtes“ anzufangen, erzählt er. Auf der Eßlinger Hochschule für Maschinenbau, Konstruktion und Entwicklung kam er zum ersten Mal mit Tusche und deren kreativen Verwendungsmöglichkeiten in Berührung. Gemalt habe er jedoch schon als Junge, und sein ganzes Leben habe er den Wunsch gehabt, mit Farben und Formen etwas mitzuteilen. „So wie jemand anderes Lieder macht“.

Selbst in den Jahren, in denen er einen stressigen Job bei Daimler in Sindelfingen hatte, habe er nebenher ständig gemalt. Nachdem er zum Staatlichen Hochbauamt in Tübingen und später zum Gewerbeaufsichtsamt gewechselt hatte, blieb mehr Zeit für Kreativität. „Ich habe immer ein zweites Leben in der Kunst gehabt“, sagt er. Er war Schüler in der Radierklasse von Harald Fuchs und besuchte renommierte Sommerakademien.

Künstler wie Gerhard Richter, Georg Baselitz oder Anselm Kiefer gehören zu seinen großen Vorbildern. „Die treffen bei mir einen Nerv und spornen mich an“. Dann entstehen eigenwillige Porträts und rätselhafte Landschafts-Collagen, die Fragen aufwerfen und nicht auf den ersten Blick zu enträtseln sind. Daneben gibt es auch die harmonischen Aßmann-Bilder.

2016 illustrierte er als Hommage an Tübingen einen Bildband, in dem er die schönsten Ecken seiner Heimatstadt festhält. Inzwischen kommt ihm das Buch fast ein bisschen „betulich“ vor, doch er weiß: „Das gefällt vielen.“

Seit seiner Pensionierung teilt Aßmann das Jahr in aktive und passive Perioden auf. Im Sommer sammelt er Impulse und Ideen und bewahrt sie in seinen Skizzenbüchern auf. Seine Schaffensphase beginnt im Herbst und dauert bis in den Frühling. Aktuell arbeitet er an abstrahierenden Porträts mit Themen wie Geiz, Gier und Lüge.

Ob die Politik dabei Pate steht oder ob es sich um eigene Interpretationen der klassischen Todsünden handelt, lässt der Nehrener Künstler absichtlich offen. „Ein Bild entsteht immer erst im Auge des Betrachters“, erklärt er. Von den unterschiedlichen Assoziationen, die seine Werke auslösen, ist er immer wieder überrascht. In Arbeit hat er außerdem einen hölzernen Kahn, der auf einer Specksteinklippe strandet.

Das Leben birgt immer die Möglichkeit für Schiffbruch und Untergang, sinniert er über sein Motiv, und doch sei ein Boot immer auch ein Symbol der Hoffnung. Wie er die Masse der Flüchtenden darauf realisieren wird, treibt ihn noch um.

Den Künstlern in die Stube schauen

Ausstellungen gibt es momentan durch Corona und Lockdown höchstens im virtuellen Raum. Also nimmt der STEINLACH-BOTE die Situation zum Anlass, Künstlerinnen und Künstler der Gegend in ihren Ateliers und Werkstätten zu besuchen.

In einer losen Serie berichten wir, was verschiedene Künstlerinnen und Künstler im Steinlach-Gebiet schaffen und inwiefern die derzeitige Corona-Krise Einfluss auf ihre Werke nimmt.

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Erstellt:
15.01.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 40sec
zuletzt aktualisiert: 15.01.2021, 01:00 Uhr

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