Literatur

Missouri statt Allgäu

Bestsellerautor Benedict Wells hat einen sehr amerikanischen Roman über das Erwachsenwerden geschrieben, der auch eine Hommage ist an die Popkultur der 80er Jahre: „Hard Land“.

24.02.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Der neue Roman von Benedict Wells erinnert auch an die Filme der 80er: „Zurück in die Zukunft II“. Foto: Amblin/Universal/Kobal/Shutterstock Foto: © Inc. Premier/shutterstock

Der neue Roman von Benedict Wells erinnert auch an die Filme der 80er: „Zurück in die Zukunft II“. Foto: Amblin/Universal/Kobal/Shutterstock Foto: © Inc. Premier/shutterstock

Ulm. Der Roman spielt 1985 in einem Kaff in Missouri, und wovon er handelt, steht schon im ersten Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Der das erlebt hat und davon ein Jahr später rückblickend erzählt, jugendlich emotional, heißt Sam. Er ist in besagtem Sommer fünfzehn, einsam, sehr ängstlich, ein Außenseiter.

Zu seinem Vater, der arbeitslos ist, seit in Grady die Textilfabrik dichtmachte, hat er kein gutes Verhältnis, seine ältere Schwester lebt weit weg in Los Angeles und schreibt Drehbücher. Sam hängt sehr an seiner coolen Mutter, die ein paar Semester Psychologie studierte, einen kleinen Buchladen führt und auf Billy Idol steht. Jetzt aber leidet sie an einem Hirntumor und hat schon zwei Operationen hinter sich; ihre Krankheit verschattet alles.

Unvergesslicher Sommer

Die Ferien beginnen – und eine große Leere. Sam flüchtet in einen Job im Kino, dem versifften Metropolis. Er trifft dort auf den ewig quatschenden Cineasten Cameron, den verschlossenen schwarzen Football-Hünen Hightower und auf die etwas durchgeknallte, geheimnisvolle, aber auch sorgsame Kirstie – in die sich Sam, wie gesagt, verliebt. Sie sind alle zwei Jahre älter als Sam, sie werden im Herbst aufs College gehen, Grady verlassen. Aber in diesem unvergesslichen Sommer werden sie Sams Freunde – und der wird nicht nur 16, sondern schmerzvoll erwachsen. Mutproben, Alkohol, Joints, Verliebtsein, die mitreißende neue Freiheit. „Ich fühlte mich so, wie ich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich“, erinnert sich Sam an den glücklichsten Moment. Dann schlägt ihn der Tod der Mutter wieder nieder – das Buch freilich ist damit noch nicht zu Ende . . .

„Hard Land“ ist keine furchtbar originelle, aber eine packende, stimmungsvolle, intensive Geschichte mit überzeugenden Figuren nicht zuletzt für jüngere Leser, die auf John Green schwören. Und für alle anderen, die auch mal ein Teenager waren. Ein typischer Coming-of-Age-Roman aus den USA. Und eine Hommage an die Popkultur der 80er Jahre mit Filmen wie „Breakfast Club“, „Stand By Me“ und „Zurück in die Zukunft“. Doch stopp: Der Autor ist 1986 in München geboren – Benedict Wells.

Fünf Jahre nach seinem Bestseller „Vom Ende der Einsamkeit“ kommt an diesem Mittwoch sein neuer Roman „Hard Land“ in den Handel. Warum schreibt ein Deutsch-Schweizer ausgerechnet über die Achtziger in den USA? Weil es ihn tödlich gelangweilt hätte über die Neunziger im Allgäu zu schreiben, die er nur zu gut kenne, sagte Wells in einem Interview. Und weil er diese Filme der 80er in seiner Jugend aufgesogen habe: die Sehnsucht nach der Zeit der ersten Male.

Okay, klingt überzeugend. Liest sich auch so. Und wem Authentizität fehlt, der kann ja „Hard Land“ als einen fabelhaft ins Deutsche übersetzten US-Roman akzeptieren. Im Ernst: Wells hat gut recherchiert, und sowieso kennt er sich aus in der amerikanischen Literatur. Bekanntlich hat er seinen Namen nach der Schulzeit standesamtlich geändert, weil sein Großvater Baldur von Schirach, der Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien, ein verurteilter Nazi-Kriegsverbrecher, „keine nennenswerte Reue“ zeigte: Der Name Wells ist eine Reverenz an John Irving und an Homer Wells aus dem Roman „Gottes Werk & Teufels Beitrag“.

„Hard Land“ wiederum ist der Titel eines romanhaften, geheimnisvollen Gedichts über das Erwachsenwerden eines Jungen, das ein Schriftsteller aus Grady geschrieben hat und über das alle Schüler einen Aufsatz verfassen müssen. Wer knackt die Pointe des Gedichts? Wells erzählt nicht nur eine Herzschmerz-Story herunter, sein Roman ist literarisch fundiert. Aber vor allem bietet er emotionales Lese-Kino. Den Soundtrack liefert Wells gleich mit, ein Mixtape, aber nicht mehr für den Kassettenrekorder, sondern anzuhören etwa auf Spotify: von „Dont't You (Forget About Me) der Simple Minds über „I'm On Fire“ von Bruce Springsteen bis „Dancing With Myself“ von Billy Idol. Der Roman ist eine Zeitreise in die Vergangenheit, die aber sehr nah sein kann.

: Hard Land. Diogenes, 352 Seiten, 24 Euro. Foto: Diogenes Verlag

: Hard Land. Diogenes, 352 Seiten, 24 Euro. Foto: Diogenes Verlag

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Erstellt:
24.02.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 24.02.2021, 06:00 Uhr

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