Schriftsteller

Rafael Seligmann: „Meinen Eltern hat der Wald gefehlt“

Rafael Seligmann schreibt in seinem neuen Roman „Hannah und Ludwig“ über seine jüdische Familie und die Schwierigkeiten, in Israel, Deutschland oder anderswo Wurzeln zu schlagen.

26.01.2021

Von Elisabeth Zoll

Deutscher Schriftsteller und Publizist mit israelischen Wurzeln: Rafael Seligmann posiert vor dem Brandenburger Tor. Foto: Sebastian Kahnert

Deutscher Schriftsteller und Publizist mit israelischen Wurzeln: Rafael Seligmann posiert vor dem Brandenburger Tor. Foto: Sebastian Kahnert

Was heißt Heimat? Mit diesem Thema befasst sich der neue Roman des in Israel geborenen Schriftstellers Rafael Seligmann. Als Jude wird sein Vater Ludwig in den 30er Jahren aus Deutschland vertrieben. Er flieht nach Palästina, fasst Fuß – und scheitert zunächst doch. Die Sicherheit im fremden Land schafft noch keine Beheimatung.

Herr Seligmann, was bedeutet Heimat für Sie?

Rafael Seligmann: Vertrautheit. Vertrautheit mit den Menschen, der Sprache, den Sitten, der Landschaft, der Kultur, dem Klima. Man geht raus und muss nicht lange überlegen, denn man gehört dazu, kann die Anderen auf eine tiefe Weise verstehen.

Bei der Ankunft Ihres Vaters in Tel Aviv, 1934, lassen Sie ihn sagen: „Mein Land ist Deutschland. Aber dort will uns niemand haben.“ Wie ist er mit dieser Zurückweisung zurecht gekommen?

Sehr schwer. Mein Vater war kein trotziger Mann, der einfach sagte: Deutschland ist für mich gestorben. Doch er wusste genau, dass er in seinem Heimatort Ichenhausen um sein Leben fürchten musste. So blieb ihm nur der Weg in die biblische Heimat.

Wie sehr hat die Zurückweisung Ihres Vaters Ihr eigenes Leben geprägt?

In meiner Kindheit in Israel war das ständig Thema. Vor allem bei meiner Mutter. Ihr Lieblingsbruder Aron musste 1934 aus Berlin fliehen und ging in sein Geburtsland Polen zurück. Dort ist er mitsamt seiner Familie ermordet worden. Meine Mutter hat sich immer die Schuld gegeben, dass sie ihn nicht nach Palästina holen konnte. Doch Mutter lebte dort selbst als Illegale. Sie hatte gar keine Chance. In Palästina haben wir Kinder ständig Menschen mit eingebrannter KZ-Nummer gesehen und Menschen erlebt, die von ihren furchtbaren Erlebnissen im KZ gepeinigt wurden.

Ihr Roman verschweigt nicht, dass Juden aus Deutschland – die Jeckes – im britischen Mandatsgebiet Palästina nicht immer willkommen waren. Warum?

Da zeigten sich Ersatzhandlungen. Gegen die Nazis war man ohnmächtig. Daher missbrauchte man die Juden aus Deutschland als Sündenböcke. Sie sprachen die Sprache der Nazis. Das nährte Vorurteile und Sticheleien. Doch es gab nie ernsthafte Bedrohungen. Juden aus Deutschland waren immer gleichberechtigt. Als der israelische Staat 1948 gegründet wurde, waren deutsche Juden in der ersten Regierung vertreten. Vor allem das Gerichtswesen war von deutschen Juristen geprägt. Auch die Architektur Tel Avivs mit dem Bauhaus-Stil geht auf jüdische Architekten aus Deutschland zurück.

Sie haben für den zweiten Band ihrer geplanten Familien-Trilogie auch einige Monate in Tel Aviv geforscht. Gibt es da noch Rückstände der beschriebenen Vorbehalte?

„Jecke“ ist heute positiv besetzt. Der Begriff steht für ehrliche, zuverlässige Leute. Deutschland ist in Israel unglaublich populär. Viel populärer als Israel in Deutschland. Gegenüber Israel gibt es hierzulande Ressentiments, die auch mit Schuldgefühlen zu tun haben.

Sie verweben Ihre Familiengeschichte mit dem Weltgeschehen: der Verfolgung von Juden in Deutschland und den teils schwierigen Geburtswehen des Staates Israel. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Weil ich Historiker bin. Ich wollte mehr als eine Liebesgeschichte schreiben. Wir alle sind Teil der Geschichte. Auch meine Eltern waren es. Augenblicklich sind wir Teil der Pandemie-Geschichte. Sie gehört – leider – zu unserem Leben.

Rafael Seligmann: Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv. Langen-Müller, 416 Seiten, 24 Euro.

Rafael Seligmann: Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv. Langen-Müller, 416 Seiten, 24 Euro.

Aus Ihrem Roman erfahren wir, wie schwer Beheimatung ist. Ihr Onkel Heinrich bleibt fremd in Israel. Ihr Vater Ludwig kehrt als gescheiterter Geschäftsmann nach Deutschland zurück. Warum lässt sich Heimat nicht wechseln wie ein „gebrauchtes Hemd“, wie Sie schreiben?

Weil die Vertrautheit fehlt. Ich habe das umgekehrt erlebt. Als Zehnjähriger kam ich 1957 nach Deutschland. Einen europäischen Winter kannte ich bis dahin nicht. Die Gerüche in Deutschland waren mir fremd. Aus den Wirtschaften roch es oft nach ranzigem Öl. In München sah ich noch Bombenkrater. Für meinen Vater und meinen Onkel muss Palästina mindestens so ein großer Schock gewesen sein. Sie sprachen die Sprache nicht, kannten nicht die Sitten. Meinen Eltern hat in Israel beispielsweise immer der deutsche Wald gefehlt. Auch in der Literatur und Musik blieben sie Deutschland verbunden.

Aus Ihrer Familiengeschichte erfahren wir, wie schwer es ist, in einem fremden Land Fuß zu fassen. Lässt sich daraus eine Lehre für die heutige Integrationspolitik ziehen?

Ja und Nein. Mein Vater kam in Palästina beispielsweise mit Deutsch gut zurecht. Ein großer Teil der Einwanderer hat Jiddisch gesprochen, eine Art Mittelhochdeutsch. So gab es zunächst keine Notwendigkeit, Hebräisch zu lernen. Doch wenn jemand heute in ein fremdes Land flieht, muss er die Sprache lernen. Sonst bleibt er ausgeschlossen und ist zu einer Gettobildung verurteilt. Mehr noch – man kann nicht in Deutschland leben, ohne zu sagen: Ich akzeptiere die Gesetze und Gewohnheiten des Landes.

Auch ihre Mutter hatte ein schweres Schicksal: Ihre Familie wurde in Auschwitz ermordet. Sie selbst floh mit der Familie ihrer Schwester aus Berlin, wo sie den sexuellen Übergriffen des Schwagers ausgesetzt war. Später dann ging sie mit ihrem Mann zurück in das verhasste Deutschland. Ist sie hier heimisch geworden?

Schwer zu sagen. Meine Mutter neigte zu Pessimismus und Depressionen. Erst in München begann sie, sich zum ersten Mal in ihrem Leben sicher zu fühlen. Das Gefühl der Unsicherheit hat sie auf mich projiziert. Sie machte mich zu ihrem Sorgenkind. Meine Freiheit habe ich mir mit der Zeit auch gegen sie erkämpft.

Glauben Sie, Frauen beheimaten sich anders als Männer?

Das ist individuell unterschiedlich. Doch ich glaube, Frauen sind neugieriger, offener und psychisch stabiler. Das hilft ihnen.

Sie selbst kamen 1957 als Zehnjähriger nach Deutschland, in das Land der Täter. Wie ist Ihnen dieses Land begegnet?

Ich habe sehr Gegensätzliches mitbekommen. In meiner ersten Schule in München hatten der Schulleiter und unser Lehrer Vorurteile gegenüber Juden. Das war spürbar, auch wenn ich nicht körperlich bedroht wurde. Ganz anders wurde es, als wir in einen anderen Stadtteil zogen. In der neuen Schule herrschte ein offenes Klima. Als ein Mitschüler versuchte, mich zu hänseln, schritt der Rektor mit den Worten ein: „Bei mir gibt es keine Juden und keine Katholiken. Bei mir gibt es nur Menschen.“ Kein Kind wird als Antisemit geboren. Er spiegelt allenfalls sein Elternhaus.

Der Antisemitismus ist nicht verschwunden. Sorgen Sie sich heute um dieses Land?

Jeder sollte sich sorgen. Auch eine stabile Demokratie wird einem nicht geschenkt. Schon gar nicht für immer. Siehe die letzten Ereignisse in Washington. Wir müssen uns darum kümmern, dass die demokratischen Grundsätze gewahrt bleiben. Dabei geht es um mehr als die Haltung gegenüber Juden. Die 100 000 jüdischen Menschen sind keine relevante Größe mehr. Die nicht-jüdische Mehrheit entscheidet heute, ob das jüdische Erbe, das sich mit Namen wie Einstein, Rilke und Heine verbindet, im gesamtdeutschen Mosaik sichtbar und wertgeschätzt bleibt. Denn das Judentum ist seit 1700 Jahren ein Teil dieser Gesellschaft.

Was sagt der Umgang mit der jüdischen Minderheit über die Mehrheitsgesellschaft aus?

Die Juden sind ein Seismograph. Wie man mit Juden umgeht, zeigt, wie die Gesellschaft mit sich selbst umgeht. Wenn man Juden in diesem Land ausschließt, wird auch das deutsche Herz ein ganzes Stück enger.

Schreibender Kämpfer für mehr Normalität

Der Roman „Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv“ ist der zweite Band einer geplanten Familien-Trilogie. Er schließt an an den ersten Band: „Lauf Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball“. Rafael Seligmann hat darin die Jugend seines Vaters Ludwig in der bayerischen Kleinstadt Ichenhausen im Landkreis Günzburg aufgearbeitet.

Der Autor Rafael Seligmann ist Journalist, Publizist und Zeithistoriker israelischer Herkunft. Seine Romane und Essays thematisieren immer wieder das deutsch-jüdische Verhältnis. Sein Ziel ist: mehr Normalität. Bekannte Bücher des inzwischen 73-jährigen Selgmann sind „Die Kohle-Saga“, „Der Musterjude“ und „Deutsch meschugge“. - eth

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Erstellt:
26.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 55sec
zuletzt aktualisiert: 26.01.2021, 06:00 Uhr

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