Porträt

Mehr als „Brüllke“

Hans-Ulrich Rülke hat als FDP-Spitzenkandidat ein klares Ziel: Die Liberalen sollen wieder mitregieren. Mit?Kochlöffeln in der Hand stellt er sich dafür auf die Straße und sucht das Gespräch mit Wählern.

04.03.2021

Von JENS SCHMITZ

Im Straßenwahlkampf: Hans-Ulrich Rülke. Foto: Jens Schmitz

Im Straßenwahlkampf: Hans-Ulrich Rülke. Foto: Jens Schmitz

Stuttgart. Steppjacke, Jeans, FFP2-Maske: Nein, von Corona lässt sich Hans-Ulrich Rülke nicht die Wahlkampf-Suppe versalzen. „Darf ich Ihnen auch einen Kochlöffel mitgeben?“, fragt der FDP-Spitzenkandidat Passanten auf dem Samstagsmarkt im 10?000-Einwohner-Städtchen Birkenfeld (Enzkreis). Meist wird er so auch einen Wahlprospekt los.

„Herr Rülke, ja?“, fragt ein weißhaariger älterer Mann. „Ich hab mal nur eine Frage.“ Die Frage ist häufig die gleiche: Sie betrifft die Schwierigkeit, trotz Berechtigung einen Impftermin zu bekommen. Die Liberalen haben einen eigenen Unterstützungsdienst eingerichtet. „Rufen Sie am Montagmorgen bei uns an“, sagt Rülke, „dann helfen wir Ihnen bei einem Termin.“

Nicht alle sind so leicht zu beschwichtigen. „Unfassbar, was ist denn da alles versaut worden?“, schimpft ein anderer Herr. Rülke pflichtet ihm bei: „Ja, man hat zu wenig Impfstoff bestellt, geknausert, und die Organisation funktioniert nicht.“ Deshalb gebe es ja das FDP-Angebot.

„Bei diesen spontanen Gesprächen ist Corona das überragende Thema“, berichtet Rülke. Der Landtagsfraktionsführer und seine Liberalen pochen wie kaum jemand sonst auf die Abwägung zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Sicherheit und ihren wirtschaftlichen wie sozialen Folgen. Manche Äußerungen würde Rülke heute vermutlich anders treffen. Im April 2020 verkündete er im Landtag, man könne „nicht behaupten, wir seien am Anfang der Pandemie“. Neben der SPD hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) aber auch bei der FDP explizit für ernsthaft-konstruktive Krisenbegleitung bedankt.

Zur dritten Oppositionsfraktion hat Rülke eine klare Meinung. „Mir ist es lieber, jemand wählt gar nicht, als AfD“, erklärt er unterm gelben Partei-Sonnenschirm. „Die AfD löst keine Probleme.“ Der 59-Jährige kennt sich aus mit der Alternative für Deutschland. Sein Wahlkreis Pforzheim hat in Baden-Württemberg die höchste Arbeitslosigkeit und den höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Sowohl im Gemeinderat als auch im Landesparlament hat Rülke sich als Gegenspieler der Rechtsausleger positioniert. Bundesweit bekannt wurde er 2017, als er ihre Strategien in einer zehnminütigen Landtagsrede so publikumswirksam auseinandernahm, dass er es damit in die ZDF-Heute-Show schaffte.

Seine Wortbeiträge im Parlament sind eigenwillig: Wo andere Manuskripte mitbringen, genügen dem Liberalen kleine Kärtchen mit Stichworten, über die er gemächlich und nicht ohne Anzeichen von Genuss extemporiert. Das Ergebnis ist pointiert und oft geschliffen, wenngleich der 1,90-Meter-Mann sich auch für Polemik nicht zu schade ist.

In der Legislaturperiode 2011 bis 2016, als seine stark dezimierte Fraktion händeringend Aufmerksamkeit suchte, verdiente er sich den Spitznamen „Brüllke“. Seit die Liberalen 2016 in ihrem Stammland wieder auf acht Prozent gewachsen sind, agiert Rülke mit etwas gebremsterem Schaum, wie er selbst sagt. „Wenn Sie zugespitzt auftreten, haben Sie Wahrnehmung, aber Sie haben natürlich auch einen stärkeren Abwehrreflex.“

Viele seiner Kollegen halten Rülke für den besten Redner des Landtags. Seit 2018 ist er Sprecher der deutschen FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz.

Rülke wurde 1961 in Tuttlingen geboren und ist in Singen aufgewachsen. An der Universität Konstanz studierte er Germanistik, Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie. Bei einem der Gründerväter der Hochschule, Ralf Dahrendorf, lernte er die Grundzüge des Liberalismus.

Nach der Promotion über „Gottesbild und Poetik bei Klopstock“ unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Pforzheim, bevor er 2001 als Fachberater ans Oberschulamt wechselte. 1999 wurde er in den Pforzheimer Gemeinderat gewählt, 2006 in den Landtag. Seit 2009 führt er dort die liberale Fraktion, inhaltlich prägend und gleichzeitig kollegial, wie es heißt.

Es ist nicht zuletzt der FDP zu verdanken, dass der Landtag sich im Juli 2020 als erstes deutsches Länderparlament mehr Mitspracherechte in der Corona-Krise erkämpfte. Seither hat Rülke sich bei der Regierung ausdrücklich bedankt, dass im Plenum über die von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen debattiert und abgestimmt werden kann, bevor sie in Kraft treten. „Ich denke, das ist ein angemessener Umgang mit dem Parlament und mit der Opposition“, sagte er im Januar.

Diese Worte erwähnt er auf dem Wochenmarkt nicht, als sich eine aufgebrachte Erzieherin beschwert, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übergehe in der Pandemie demokratisch legitimierte Gremien. Rülke schweigt auch, als Merkel als „armes schwarzes Dingsbums“ mit abgekauten Fingernägeln bezeichnet wird, das ferngesteuert oder erpresst werde.

Die Gesprächspartnerin macht deutlich, dass sie mit einer Stimme für die AfD liebäugelt; in jedem Fall soll ihre Wahl dazu beitragen, „dass der Spuk ein Ende hat“. Rülke bietet sich an: „Ja, wir tun, was wir können.“

Als sein Gegenüber behauptet, man habe bei der Meinungsfreiheit schon Zustände wie im Zweiten Weltkrieg, lässt er dann doch Widerspruch anklingen: „Na, nicht ganz.“ Es gebe in Deutschland durchaus noch eine Verfassung, beharrt er. „Da glaube ich schon noch an die Demokratie.“

Rülke ist für kühle Analysen bekannt; er inszeniert sich gern als Stratege. Mit der SPD sei man sich im Grundsatz einig, erklärt er Standbesuchern: Wenn es nicht für Grün-Rot reiche, säßen nach der Wahl entweder beide Parteien in der Regierung oder keine. „Das wesentliche Ziel ist, mitzuregieren“, hat er unserer Zeitung im Sommer gesagt. Er hat lange darauf gewartet.

Persönlich weiß Rülke, was Ausdauer bedeutet. Er hat jahrelang Leistungstennis betrieben und joggt heute noch jeden Morgen elf Kilometer. Der verheiratete Familienvater ist evangelisch, er hat drei Kinder. Seinen energischen Auftritten im Parlament zum Trotz hört er musikalisch am liebsten Balladen. Und der Kochlöffel? Babywickeln sei kein Problem, verrät Rülke, aber kochen könne er nicht. Trotzdem nennt er ein Lieblingsessen: Rinderzunge mit Spätzle und Rotkraut.