Das Dorf der vielen schönen Kinder

Mascha Kautt hat Interviews und Dokumente aus 170 Jahren Immenhausen zusammengetragen

Dass ihre „Achtklass-Arbeit“ ein Buch sein sollte, war Mascha Kautt ziemlich schnell klar. Die Waldorfschülerin dachte aber eher an eine fiktive Geschichte, mit historischem Hintergrund. Anstatt für das Schulprojekt über die Goldenen Zwanziger zu schreiben, trug sie dann Fakten und Geschichten aus ihrem Dorf zusammen – und machte daraus die erste Immenhausen-Dokumentation überhaupt.

04.08.2016

Von Christine Laudenbach

„Immenhausen finde ich toll“, sagt Mascha Kautt. Mit ihrem Dorf verbindet sie: Landwirtschaft, klein, die Feuerwehr (weil direkt gegenüber), Katzen und Kindheit, Äpfel, Schlepper, Familie, Garten und als zehntes? Essen. Bild: Metz

„Immenhausen finde ich toll“, sagt Mascha Kautt. Mit ihrem Dorf verbindet sie: Landwirtschaft, klein, die Feuerwehr (weil direkt gegenüber), Katzen und Kindheit, Äpfel, Schlepper, Familie, Garten und als zehntes? Essen. Bild: Metz

Die Frage nach ihrem Lieblingsplatz bringt Mascha Kautt kurz aus dem Konzept. Dabei wollte sie genau dies von ihren Interviewpartnern wissen. Bei den zehn Begriffen, die die von ihr befragten Immenhäuser spontan mit dem Härtenort in Verbindung bringen sollten, muss die 14-Jährige noch etwas länger überlegen. Die Situation kommt ihr bekannt vor – allerdings mit vertauschten Rollen. Als Mascha Kautt für das Schulprojekt Menschen befragte, stand sie quasi auf der anderen Seite. Manche der älteren Interviewpartner musste sie gar erst grundsätzlich davon überzeugen, mit ihr zu sprechen. Bereut scheinen sie es nicht zu haben. Einige, sagt Mascha Kautt, würden sie jetzt auf der Straße schon von Weitem freundlich grüßen. Vor dem Entstehen von „Immenhausen in Interviews und Dokumenten“ war das noch ein bisschen anders.

Ins Buch schafften es schließlich sieben Interviews. Sie erzählen Geschichte(n) von früher und heute und füllen die sorgfältig in Archiven aufgestöberten Spuren mit Leben. „Ich wollte zunächst nur ganz Alte interviewen“, sagt die junge Immenhäuserin, „ich hab’ aber gar nicht so viele gefunden“. Sie entschied sich also für eine Mischung. Angefangen hat sie vergangenen Spätsommer beim damaligen Pfarrer Sung Kim. Der zierte sich zwar etwas wegen des Fotos, erzählt sie, gab aber bereitwillig Auskunft, was ihm an Immenhausen gefällt und was nicht. Er sprach über besondere Eigenschaften, die er den Bewohnern zuschreibt, und die Atmosphäre im Ort. Als die Waldorfschülerin zuhause das aufgezeichnete Gespräch abhörte und in Form bringen wollte, sei ihr bewusst geworden: Das Buch, für das sie rund ein halbes Jahr Zeit hat, wird viel Arbeit! Unter Umständen mehr, als das Regal, das die Freundin als „Achtklass-Arbeit“ zimmern wollte. Oder das Kochbuch der Klassenkameradin, mit Rezepten aus der Nachbarschaft.

Das „Becka-Klärle“

und die Ochsen-Wirtin

Das „Becka-Klärle“ und die ehemalige Ochsen-Wirtin besuchte sie als nächstes. Klara Grauer und Lotte Gonser mussten einfach in das Buch, das Immenhausen 170 Jahre aus diversen Blickwinkeln beleuchtet. Die beiden Überachtzigjährigen konnten Einblick in das frühere wirtschaftliche Dorfleben geben. Als der Härtenort noch nicht zur Gesamtgemeinde Kusterdingen gehörte. Ebenso Anna Maier, die langjährige Leiterin der Sparkassen-Filiale, die zwei Monate nach dem Interview 87-jährig starb.

Bei dem Gespräch mit den drei alteingesessenen Frauen kristallisierte sich eines schnell heraus: Deren Jugend hat mit der von Mascha Kautt relativ wenig gemein. Freizeit? Eher nicht. Auf dem Land musste mitgeschafft werden. Auf dem Feld und in der Wirtschaft. Der Ochsen machte Mitte der 90er Jahre zu. Bis dahin hatte er „über 100 Jahre“ offen. Als Lotte Gonser Kind war, gab es dort noch keine Kühlung fürs Bier, wie sie erzählt. Die Flaschen mussten einzeln aus dem Keller geholt werden. Klar, dass sie „nicht fortgehen konnte, um mit anderen Kindern zu spielen“. Und noch etwas zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews: Heimat. Auch wenn hier nicht allen alles gefällt: Für alle ist und bleibt es das Zuhause, das sie gegen nichts eintauschen wollten.

Auch Mascha Kautt sieht das so: Hier das „ganze Leben zu verbringen“, kann sie sich zwar nicht vorstellen. Nach der Schule will sie ins Ausland. Dann studieren. Aber vielleicht „komme ich ja zurück“, denn: „Immenhausen finde ich toll.“ Auch ein Lieblingsplatz ist ihr inzwischen eingefallen: „Bei unseren Hühnern fand ich’s immer schön“, sagt sie, „aber die hat jetzt alle der Fuchs geholt.“ Aber: Im Wald, am Platz mit dem Bärlauch „ist es auch sehr schön“.

In Immenhausen liegen Mascha Kautts Wurzeln. Beim Wühlen in den alten Akten im TAGBLATT- und im Kirchenarchiv stieß sie immer wieder auf Familienmitglieder. Auf den Opa zum Beispiel. Die Kautts leben seit Generationen hier, betreiben Landwirtschaft. Dass sie die Enkelin von Maria und Willy Kautt ist, „weiß im Dorf jeder“. Der Opa konnte die Achtklässlerin dann auch zu Genüge mit Material versorgen. Sieben dicke Wälzer zog er aus dem Regal, voll mit Daten und Fakten. Sie habe dabei viel über ihr Dorf erfahren. Etwa dass es, Stand 1867, ein Armenhaus gab und dass vier „laufende Brunnen reichlich gutes Trinkwasser liefern“. Die Einwohner wurden als „gesunder kräftiger Schlag“ beschrieben, „ohne Gebrechen“, dafür mit „angenehmen Gesichtszügen“. Stolz hervorgehoben wurde, dass dort blonde Haare und blaue Augen vorherrschten und dass „man namentlich viele schöne Kinder trifft“. Dass ihr Opa so viele Nachschlagewerke liefern konnte, wundert Mascha Kautt nicht: Er war im Gemeinderat, sagt sie, da habe er immer wieder einen Band geschenkt bekommen.

Interviewt hat sie Willy Kautt selbstverständlich auch. Kaum jemand kann so viel über Immenhausen erzählen wie er. Über den Krieg und die Zeit danach. Über seine Jugend und den eigenen Großvater. Das Gespräch mit dem Opa sei übrigens mit Abstand das anstrengendste von allen gewesen. Warum? „Er weiß so viel.“ Fünf bis sechs Stunden musste sie tippen und vieles herausfiltern. Das Schwäbische glätten. Denn „das versteht kein Mensch“.

Bei der Frage nach den zehn Worten zu Immenhausen geriet übrigens auch der Opa ins Stocken: „Oje. (...) Das ist meine Heimat. Da hab ich keine zehn Worte.“ Sein Lieblingsplatz fiel ihm da schon prompter ein: „Mein Sofa.“ Kurze Statements scheinen in der Familie zu liegen: Aus den Immenhausen-Impressionen seines Sohnes Jörg Kautt hat es zwar nur ein Fragment in die Dokumentation geschafft, dafür aber an prominente Stelle: Auf der Cover-Rückseite nach den zehn Begriffen gefragt, lautet die Antwort: „Neun Mal schön.“ „Und das zehnte Wort?“ „Es gibt auch Seckel.“

Das erste Immenhausen-Buch ist ein Verkaufsschlager

„Immenhausen in Interviews und Dokumenten – 1846 - 2016“ ist sehr gefragt: Auch die zweite Auflage ist fast verkauft. Insgesamt über 200 Stück. Sie werde „mega-oft auf das Buch angesprochen“, sagt Mascha Kautt. Die Kosten für Druck, Papier und Bearbeitung von „mehreren hundert Euro“ hat die Familie vorgestreckt. Inzwischen seien diese Ausgaben so gut wie gedeckt. Die Dokumentation hat 80 Seiten und kostet 8 Euro. Erhältlich ist sie im Rathaus Immenhausen oder per Mail: immenhausen-buch@gmx.de.

Immenhäuser können auch einfach bei Mascha Kautt klingeln.

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Erstellt:
04.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 07sec
zuletzt aktualisiert: 04.08.2016, 01:00 Uhr

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