Ulrich Janßen über einen Hilferuf aus dem Altenheim

Manchmal möchte er am liebsten nicht mehr leben

Herr D. ist 77 Jahre alt und wohnt in einem Tübinger Altenheim. Vor ein paar Tagen rief er uns an, weil er sich schlecht behandelt fühlt. „Mein Pech ist“, sagte er, „dass ich geistig noch sehr fit bin.“ Ein seltsamer Satz. Wie kommt man dazu, so etwas zu sagen?

22.09.2017

Von Ulrich Janßen

Demenzkranke, erläutert Herr D., hätten eine Lobby. Wer dement ist, bekomme einen guten Pflegegrad, Geld, Hilfe, Gesellschaft und auch ein bisschen Ansprache.

Er dagegen bekomme nichts. Herr D. lebt allein in seiner Wohnung im Altenheim. Er hört schwer, ist herzkrank, schläft schlecht, hat Diabetes, kaputte Knie und immer wieder rasende Schmerzen in den Beinen. Vor allem ist er so gut wie blind. Auf einem Auge sieht er noch 0,05 Prozent, auf dem anderen 0,06 Prozent. Immer wieder stößt er sich den Kopf in seiner Wohnung an. Er kippt Gläser um und kann die Flüssigkeit nicht aufwischen. Und er braucht schon mal eine halbe Stunde, um Schnürsenkel einzufädeln. „Wenn ich mein Unvermögen realisiere, muss ich schreien vor Verzweiflung und möchte dann am liebsten nicht mehr leben“, sagt er.

Zweimal war der Medizinische Dienst bei ihm. Aber über Pflegegrad 1 hinaus hat er es nie geschafft. Sein Problem ist, dass er sich noch allein anziehen und den Löffel zum Mund führen kann und dass er nicht in die Hosen macht. Das Pflegestärkungsgesetz sagt in solchen Fällen: Blindheit reicht nicht einmal für Pflegegrad zwei.

Im früheren Leben war Herr D. Diplom-Kaufmann. Ein erfolgreicher Mann, der ein Haus gebaut hat und dort mit Frau und Kindern lebte. Nichts davon ist geblieben. Die Ehe ist zerbrochen, die Kinder sind weg, sein Leben hat sich auf ein paar Quadratmeter reduziert.

Wohin mit der Trauer, der Verzweiflung und der Wut, die sich auf diesen Quadratmetern täglich aufs Neue ansammeln, wenn niemand da ist, der sie hören will. Also klagt Herr D. über den VdK, der ihn schlecht beraten habe. Er beneidet Demenzkranke und hadert mit der Gutachterin des Medizinischen Dienstes, die sich nicht wirklich für ihn interessiert, sondern nur stur in ihren Computer getippt habe. Keine Pflege. Kein Respekt.

Bestimmt ist es nicht immer leicht, mit Herrn D. umzugehen. Aber was soll man tun, wenn einem bei klarem Verstand allmählich die Welt abhanden kommt? Wenn man nicht mehr lesen und Filme schauen kann, den Wind nicht mehr wehen hört.

Einen Skandal gibt das Unglück von Herrn D. trotzdem nicht her. Im Großen und Ganzen, das ergaben unsere Nachfragen, ist alles korrekt gelaufen.

So können wir nur eines tun. Von Herrn D. erzählen. Vielleicht gibt es ja irgendwo einen Herrn E. oder eine Frau F., denen es ähnlich geht. Geteiltes Leid, sagt man, ist halbes Leid. Die Telefonnummer von Herrn D. hätten wir.