Rassismus

„Man hat mir etwas genommen“

Mobbing und Ausgrenzung gehören zum Alltag vieler Sinti und Roma in Deutschland. Aktivisten wie die Stuttgarterin Esther Reinhardt-Bendel wehren sich dagegen.

08.02.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Esther Reinhardt-Bendel hat die Initiative „Sinti-Roma-Pride“ ins Leben gerufen. Auf ihre Wurzeln ist sie stolz. Foto: Ferdinando Iannone

Esther Reinhardt-Bendel hat die Initiative „Sinti-Roma-Pride“ ins Leben gerufen. Auf ihre Wurzeln ist sie stolz. Foto: Ferdinando Iannone

Stuttgart. Esther Reinhardt-Bendel ist in der zweiten Klasse, als ihr zum ersten Mal klar wird, dass sie von der Welt da draußen als minderwertig wahrgenommen wird. „Ein Junge aus meiner Klasse hat Steine nach mir geworfen, ,Zick, Zack, Zigeunerpack? gerufen, und dass wir keine Steuern zahlen würden“, erinnert sich die 35-Jährige. Was Steuern sind, habe sie damals gar nicht gewusst. Dass sie beleidigt worden war, realisierte die damals Siebenjährige aber durchaus. Ein Erlebnis, das erst der Anfang sein sollte. „Alltagsrassismus ist für mich und meine Leute an der Tagesordnung“, sagt die Stuttgarterin.

Reinhardt-Bendel ist eine deutsche Sinteza, sie gehört zur Minderheit der Sinti und Roma. Vor sieben Jahren hat die Stuttgarterin gemeinsam mit anderen die Initiative „Sinti-Roma-Pride“ ins Leben gerufen, um mit Vorurteilen aufzuräumen und „ihren Leuten“, wie sie sagt, eine Lobby zu geben. Eine solche gebe es in Deutschland für Sinti und Roma nicht, sagt die Aktivistin. Stattdessen seien Mobbing, Rassismus und die Beförderung von Klischees an der Tagesordnung.

Das beste Beispiel dafür ist für Reinhardt-Bendel die WDR-Sendung „Die letzte Instanz“, die jüngst mit einem Shitstorm überzogen wurde, weil sich dort Prominente wie der Talkmaster Thomas Gottschalk und die Schauspielerin Janine Kunze in herablassender und rassistischer Weise über Sinti und Roma und schwarze Menschen geäußert hatten. Ausgangspunkt war eine Diskussion über die Begriffe Zigeunersoße beziehungsweise Zigeunerschnitzel gewesen. Kunze hatte unter anderem zur Kritik des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma an der diskriminierenden Bezeichnung gesagt, da säßen wahrscheinlich zwei, drei Leute, die nichts Besseres zu tun hätten.

Fassungslos über WDR-Sendung

Sie sei darüber immer noch fassungslos, sagt Reinhardt-Bendel. „Da sitzen vier weiße Menschen, die nicht zu einer Minderheit gehören, bestimmen darüber, wie sich Betroffene zu fühlen haben, und spielen die Problematik dann auch noch krass herunter.“ Wie selbstverständlich in der Sendung Antiziganismus transportiert worden sei, habe für sie eine neue Qualität. Obendrein sei das auch noch in einem öffentlich-rechtlichen Sender mit Bildungsauftrag geschehen. „Das war wie eine Ohrfeige“, sagt die Aktivistin über die Gefühlslage in der Community. „Man stellt sich die Frage, ob diese Leute uns als Menschen oder als Untermenschen wahrnehmen.“

Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg, kennt die Bilder, die in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft herumgeistern, nur zu gut. Jene, vom bösen, wahrsagenden, stehlenden Zigeuner. Oder, wenn man so will positiv konnotiert, vom musizierenden, bunt gewandeten Zigeuner, der die Freiheit liebt und in den Tag hineinlebt. Ob positiv oder negativ besetzt – all diese Bilder hätten mit den Sinti und Roma nichts zu tun, sagt der 55-Jährige. Den Begriff Zigeuner gebe es im Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, gar nicht. Vielmehr handele es sich um eine Fremdbezeichnung, um Projektionen der Mehrheitsgesellschaft, mit der sich Sinti und Roma nicht identifizierten, unter denen sie aber litten, weil ihnen dadurch in wichtigen Lebensbereichen von Bildung über Arbeit und Wohnen bis zu gesellschaftlicher Teilhabe Schwierigkeiten entstünden.

Strauß verweist auf eine aktuelle Studie des Mannheimer Hauses für Antiziganismusforschung RomnoKher, die am 24. Februar offiziell vorgestellt wird und der zufolge 40 Prozent der 18- bis 50-jährigen Roma und Sinti keinen beruflichen Abschluss haben. Eine weitere Erkenntnis: 15 Prozent der unter 30-Jährigen verlassen die Schule ohne Abschluss. Die Ursachen sind unter anderem historisch bedingt und liegen zum Teil im Dritten Reich begründet, wo 90 Prozent der in Deutschland lebenden Sinti und Roma ermordet worden seien, erklärt Strauß. Den Krieg überlebt hätten vor allem die Jugendlichen, die jahrelang keine Schule besuchen konnten. Eine Generation voller Analphabeten, die große Vorbehalte gehabt habe, später die eigenen Kinder zu denselben Lehrern zurückzuschicken, in Institutionen, aus denen sie ausgeschlossen worden waren, erklärt Strauß.

Aber auch das System macht es Sinti und Roma – mehr als 15?000 leben nach Schätzungen im Südwesten – nach wie vor schwer, Fuß zu fassen. „Viele Sinti-Kinder erhalten pauschal eine Empfehlung für die Förderschule“, sagt Reinhardt-Bendel. Sie selbst hat einen Realschulabschluss, holte sich den aber über den zweiten Bildungsweg, nachdem sie auf der Realschule massiv Mobbing erlebt habe – bis hoch zum Rektor, wie sie sagt. Den verpassten Chancen trauert sie hinterher. „Ich denke mir immer wieder, ich hätte studieren können. Man hat mir da etwas genommen.“ Eine sinnvolle Aufgabe hat die Mutter eines sechsjährigen Sohnes mit ihrem Einsatz für die Community gefunden. In der wirbt sie stark dafür, zu den eigenen Wurzeln zu stehen, „damit die Leute sehen, dass wir auch ganz normale Menschen sind. Der eine schafft in der Bank, der andere ist Anwalt.“

Daniel Strauß weiß: „40 Prozent der Sinti und Roma verleugnen situativ ihre Identität.“ Sei es bei der Wohnungssuche, wo Vermieter sonst die laute Großfamilie mit laxer Zahlungsmoral fürchten könnten. Oder bei der Jobsuche, wo man sich häufig mit dem Vorurteil konfrontiert sähe, zu klauen, etwa, wenn es um Tätigkeiten an der Kasse gehe. Strauß: „Viele arbeiten deshalb nicht in ihren Ursprungsberufen, sondern als Taxifahrer oder Straßenbahner.“

Die Zuwanderung aus Südosteuropa in den vergangenen Jahren habe den Rassismus erneut angeheizt, so Strauß. In Kooperation mit dem Sozialministerium reagiert der Landesverband der Sinti und Roma mit einem Projekt darauf, das sich gezielt an zugewanderte Sinti und Roma richtet und deren gleichberechtigte Teilhabe zum Ziel hat. Dabei werde bewusst nicht die Ethnie in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr gehe es darum, Probleme in den wichtigen Lebensbereichen zu identifizieren und passende Hilfsangebote zu schaffen.

Das ist die Arbeit, auf die es Strauß ankommt. Ob das Zigeunerschnitzel nun weiter so heißt oder nicht, ist für ihn nicht das drängendste Problem. Wichtig sei, den Begriff Zigeuner etwa in Kunst und Kultur in den richtigen Kontext zu stellen. Von der Gesellschaft fordert der 55-Jährige: „Jeder sollte sich seines Zigeunerbildes bewusst werden und die Verantwortung dafür übernehmen.“

Wenn sie jemanden kennenlerne, sei stets die erste Frage: Wie heißen Sie? Die zweite: Woher kommen Sie? „Weil ich halt nicht blond und blauäugig bin“, sagt Esther Reinhardt-Bendel. Die junge Frau fragt sich, wann man in Deutschland eigentlich als Deutsche gelte. Ihre Familie lebe seit hunderten Jahren im Südwesten, die 35-Jährige spricht astreines Stuttgarter Schwäbisch. Genauso aber gehören ihre Sinti-Wurzeln zu ihr. Als kleines Mädchen saß Reinhardt-Bendel mit Alten am Tisch, die in den Nazi-Lagern das „Z“ in den Arm tätowiert bekommen hatten. Eine Generation, die nach dem Krieg zu schwach gewesen sei, um sich zu wehren. Ihre Generation sei anders. Die könne für sich einstehen.

Wer sich wehrt, trifft jedoch oft auf Ablehnung, sagt Reinhardt-Bendel. „Die erste Reaktion ist meistens Schock. Erstens darüber, dass ein Mensch dieser Minderheit sich vernünftig artikulieren kann. Zweitens darüber, dass der sich traut, sich zu wehren. Man spürt da immer wieder diese Selbstverständlichkeit, dass viele denken, da komme ich mit durch, da sagt keiner was.“ Eine Selbstverständlichkeit, die Reinhardt-Bendel nicht mehr hinnehmen will. Schon allein für ihren sechsjährigen Sohn nicht. „Wir bringen ihm bei, dass mit ihm alles in Ordnung ist und dass er sich für nichts zu schämen braucht.“

Kind eines Auschwitz-Überlebenden: Daniel Strauß. Foto: VDSR-BW

Kind eines Auschwitz-Überlebenden: Daniel Strauß. Foto: VDSR-BW