Bildung

„Lücken täglich größer“

Nachhilfeschulen fühlen sich ausgebootet, weil Bildungspolitiker für Zusatzunterricht an Pensionäre, Studenten und andere denken, aber nicht an die Institute.

23.04.2021

Von LSW

Die achtjährige Anna übt mit ihrer Lehrerin in einer Schwetzinger Nachhilfeschule. Foto: Uwe Anspach/dpa

Die achtjährige Anna übt mit ihrer Lehrerin in einer Schwetzinger Nachhilfeschule. Foto: Uwe Anspach/dpa

Schwetzingen. Mario Tessitore (57) blickt düster in die Zukunft: Wenn es im Herbst keine Anmeldewelle in seiner Schwetzinger Nachhilfeschule gibt, kann er den Laden dichtmachen. Bereits jetzt haben drei Prozent der vor der Corona-Krise 4000 Nachhilfeschulen aufgegeben. Tessitore könnte das gleiche Schicksal ereilen, die Zahlen seiner „Privaten Nachhilfeschule Dr. C. Sussieck“ haben sich radikal verschlechtert.

Zu Jahresanfang hatten nur zehn statt der üblichen 100 Schüler Nachhilfe gebucht. Und die Absolventen von Vorbereitungskursen auf Schulabschlüsse sind bald fertig. „Dann beginnen die Sommerflaute und womöglich die Nachhilfe-Angebote staatlicher Schulen, die mir Schüler und Lehrer abspenstig machen“, sagt Tessitore. Er verabschiedet sich gerade von der Drittklässlerin Anna. Sie wird im Institut nicht online unterrichtet, sondern in Präsenz von der bereits geimpften Lehrerin Marion Brenner-Miguel.

Tessitores Hoffnung ruht auf der „Nachhilfe-Milliarde“ für die Kernfächer. Über so ein Förderprogramm für Kinder mit Wissenslücken beraten Bund und Länder seit einigen Wochen. Laut dem Deutschen Lehrerverband sind seit Beginn der Pandemie 400 bis 600 Unterrichtsstunden weggefallen. Jeder vierte bis fünfte der deutschlandweit etwa elf Millionen Schüler muss laut Bundesbildungsministerium teils erhebliche Lernrückstände aufarbeiten und benötigt Förderung.

Ob dabei auch etwas für die Nachhilfeschulen abfällt? Cornelia Sussieck, die Vorsitzende des Bundesverbandes Nachhilfe- und Nachmittagsschulen (VNN), bezweifelt das. Die Nachhilfeschulen seien in der Corona-Krise von der Politik nicht ernst genommen und übergangen worden.

„Der Schulunterricht auf Sparflamme in der Pandemie hinterlässt bei vielen Schülern Wissenslücken“, sagt Sussieck, die ihre Nachhilfeschule an Tessitore verkauft hat. „Doch wir als Profis im Umgang mit Defiziten werden von der Politik nicht einbezogen.“

Nach ihrer Einschätzung braucht sogar etwa die Hälfte der Schüler aller Klassenstufen Hilfe, um den entgangenen Unterrichtsstoff aufzuholen. So kämen bald Kinder in die zweite Klasse, ohne schreiben und lesen zu können. Ein Drittel der Schüler müsse die Klasse wiederholen.

„Die Kinder und Jugendlichen befinden sich gerade in einer Blase“, sagt Sussieck. „Bei der Rückkehr in den Regelbetrieb wird es für viele ein böses Erwachen geben.“

Statt Zusatzunterricht über die Nachhilfeschulen zu organisieren, richte sich der Blick der Bildungspolitiker auf Lehramtsstudenten, Pensionäre, Vereine und Stiftungen mit Subunternehmen und Volkshochschulen, sagt Sussieck. „Wir brauchen ein solches Parallelsystem nicht – unsere Schulen werden von Schulämtern und Regierungspräsidien bereits überwacht.“ Es entstehe eine Art grauer Markt fragwürdiger Qualität. „Arbeitsblätter austeilen ist noch kein Unterricht.“

In der Gruppe mit bis zu fünf Teilnehmern kostet eine 45-Minuten-Einheit ab 8 Euro, einzeln um die 25 Euro. Der Verband habe seit Beginn der Corona-Krise 120 Briefe an Bildungspolitiker in Bund und Ländern geschrieben, um an der Diskussion über Fördermaßnahmen teilnehmen zu können. Sussieck: mit schwacher Resonanz.

So betont das Bundesbildungsministerium, es sei sich mit den Ländern einig, dass sie als Verantwortliche für schulische Bildung die Hilfe in den bestehenden Strukturen verwirklichen. „Von daher ist es begrüßenswert, wenn die professionellen Nachhilfeeinrichtungen in erster Linie mit den Ländern über Konzepte der Soforthilfe sprechen.“

Seitens der Kultusministerkonferenz heißt es, die neue Initiative solle spätestens zum Schuljahresbeginn 2021/22 einsetzen. Ergänzende Förderangebote sind in den Sommerferien möglich.

Für die Umsetzung sollen die Länder sorgen. Die Schulen können zusätzliches Personal, den Einsatz freier Träger der Jugendhilfe und Angebote von Bildungsanbietern finanzieren. Zu ihnen zählen Nachhilfeschulen wie die von Tessitore. Nach seiner Überzeugung müssen Rückstände sofort aufgeholt werden und nicht erst, wenn im nächsten Schuljahr zugleich der neue Stoff gelernt werden soll: „Die Lücken werden täglich größer, wir müssen sie jetzt schließen.“ dpa

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Erstellt:
23.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 47sec
zuletzt aktualisiert: 23.04.2021, 06:00 Uhr

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