Tübingen

Lotteriespiel

Obwohl er seine Stieftochter in Kindheit und Jugend sehr oft missbraucht hat, muss ein 52-Jähriger aus dem Steinlachtal nur knapp über zwei Jahre ins Gefängnis („Haftstrafe für den Stiefvater", 27. April, Steinlach-Bote).

04.05.2018

Von Annette Skrypski, Tübingen

Beim Vergleich des Urteils für diesen Angeklagten (verantwortlich für über 100 Fälle des Missbrauchs seiner beiden Stieftöchter) mit den Urteilen über Sexualstraftaten von Asylbewerbern in den letzten Monaten könnte leicht der Eindruck entstehen, dass bei einheimischen Tätern das mögliche Strafmaß nicht ausgeschöpft wird, jedoch aber bei Flüchtlingen – oder hängt es vielmehr davon ab, ob im Prozess ein Glaubwürdigkeitsgutachten des „Opfers“ eingeholt wird wie im vorliegenden Fall?

Die Tübinger Gutachterin schätzte die ältere der Schwestern als glaubhaft ein, nicht aber die jüngere, da sie „zu wenig konsistent und erlebnisbezogen“ berichtet habe. Damit haben gerade Betroffene mit schwersten Traumafolgestörungen kaum eine Chance, vor Gericht als glaubwürdig anerkannt zu werden.

Warum dann überhaupt dieses oft (re-)traumatisierende Verfahren – wenn der Täter am Ende dann doch nur für das verurteilt wird, was er selbst eventuell aus taktischen Gründen gestanden hat. Nach Aussagen vieler Traumatherapeut(inn)en entspricht es einem „Lotteriespiel“, wie so eine Begutachtung ausfällt. (Literatur: „Trauma und Dissoziation“ von Claudia Fiß et al.)

Für die beiden im genannten Fall betroffenen Schwestern ist zu wünschen, dass diese Prozess-Erfahrung sie nicht spaltet, und dass sie sich mit ihrer schmerzhaften Geschichte an die Aufarbeitungskommission in Berlin wenden. Dort werden solche Erfahrungen wertschätzend angehört und analysiert, um daraus politische Konsequenzen einzufordern.