Ausstellung

Lockdown in Öl

Magie der leeren Plätze: Die Hamburger Kunsthalle zeigt die metaphysische Malerei des Italieners Giorgio de Chirico und deren deutsche Wurzeln.

25.02.2021

Von MARCUS GOLLING

Giorgio de Chirico schuf das Bild „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913) in seiner Pariser Zeit. Jetzt ist es Teil der Hamburger Ausstellung. Foto: Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection

Giorgio de Chirico schuf das Bild „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913) in seiner Pariser Zeit. Jetzt ist es Teil der Hamburger Ausstellung. Foto: Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection

Hamburg. Die Pandemie fegt die Plätze leer und beraubt die Architektur ihrer Funktion: Die Gegenwart im Jahr 2021 fühlt sich an, als hätte sie Giorgio de Chirico (1888-1978) entworfen. So wie im Gemälde „Der Lohn des Wahrsagers“ aus dem Jahr 1913, derzeit eine der Attraktionen der Ausstellung „Giorgio de Chirico: Magische Wirklichkeit“, wäre die Hamburger Kunsthalle wegen des Lockdowns nicht genauso menschenleer wie das Bild. Eine steinerne Ariadne schläft auf einem Sockel, gelbes Sonnenlicht fällt durch einen fast bildhohen Bogen, hinter einer Mauer rauscht eine Dampflok vorbei.

Surreal, könnte man leichtfertig sagen und damit den Maler auf eine der Palmen rechts im Hintergrund bringen. De Chirico wahrte trotz ästhetischer Gemeinsamkeit nämlich eine deutliche Distanz zu den Surrealisten. Seine in Hamburg präsentierte Werkgruppe, die „metaphysische Malerei“, entstand zwischen 1909 und 1919, handelt nicht vorrangig vom Unterbewussten und Fantastischen. Er malte „die Ruhe und die sinnlose Schönheit der Materie“, begriff die Realität als System von Zeichen, das sich nicht rational erfassen lasse, sondern sich offenbare.

Die Lektüre Friedrich Nietzsches, der aus Sicht de Chiricos die Kunst von der Logik befreit hat, prägte den Italiener. Womit ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen wäre, an dem der Künstler später durch seinen opportunistischen Umgang mit den Faschisten und dem geschäftstüchtigen Bedienen des Heimatgefühls seiner Landsleute erhebliche Mitschuld trägt: De Chirico ging es – schon gar nicht in der metaphysischen Phase – um eine italienische Kunst. Der in Thessalonien geborene Maler war ein Kosmopolit, ein Europäer. Und ein Fundament seines Werks wurde in Deutschland gelegt.

Zum Studium nach München

Die Arkaden, die auf vielen Gemälden auftauchen, könnten sogar die des Münchner Hofgartens sein. Nachdem de Chirico die ersten 18 Jahre seines Lebens in Griechenland verbracht hatte, seine Familie ist griechisch-italienischer Herkunft, kommt er mit Mutter und Bruder nach kurzer Bildungsreise durch Italien im Oktober 1906 in Bayern an. Er wird an der Akademie der Bildenden Künste aufgenommen, der konventionelle Stil seiner Lehrer beeindruckt ihn aber wenig.

Dafür ist er fasziniert von den Werken des Spätromantikers Arnold Böcklin und des Symbolisten Max Klinger. Er versenkt sich in den „tief empfundenen Kompositionen, die eine bestimmte Stimmung evozierten“, schreibt er später rückblickend. Das deutsche Wort „Stimmung“ setzt sich in seinem Vokabular fest – und in seinem Kunstverständnis. In Gemälden wie „Das Rätsel des Orakels“ (1909) erkennt man den Widerhall von Böcklins mythisch aufgeladenen Kompositionen. Ein „Sterbender Zentaur“ aus dem selben Jahr wirkt gar, als wollte de Chirico die grafische Finesse Klingers in Öl wiedergeben.

Doch München ist nur der Beginn der „metaphysischen Malerei“. Die erlebt ihre Verfeinerung in Paris ab 1911, wo der Künstler zu jener fast naiven Klarheit findet, die sein weiteres Werk auszeichnen sollte. Sein Verhältnis zu den Künstlern der klassischen Moderne blieb trotz eines „heimlichen Dialogs“ mit Picasso distanziert: De Chirico wollte keine formale Erneuerung der Kunst, sondern eine inhaltliche. Die Idee der Avantgarde, die sich selbst überholt, war ihm zuwider. Seine Bilder werden an der Seine immer rätselhafter, er erweitert seine Symbolsprache, etwa um die gesichtslosen Gliederpuppen.

Mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 endet die fruchtbare Pariser Zeit für de Chirico, er meldet sich mit seinem Bruder, dem Komponisten und späteren Schriftsteller Alberto Saviano, zum Militär und wird in Ferrara stationiert, wo er Depot- und Bürodienst versieht. Dort lernt er 1917 auch den Maler Carlo Carrà kennen, der ihm ein guter Freund und Wegbegleiter wird. Gemeinsam seilen sie sich durch gute Kontakte in eine Nervenklinik ab. Hier erst erlebt die metaphysische Malerei ihre endgültige Ausformung. De Chiricos Bilder verändern sich durch den Krieg, statt leerer Plätze malt er Interieurs, auf denen sich Gegenstände sinnlos stapeln. Die Wohnung als letzte Bastion gegen den Wahnsinn: Auch das passt in die Gegenwart.

Die Wirklichkeit in de Chiricos Werk ist allerdings weit magischer als die vor der Tür.

Anklänge an Max Klinger: „Sterbender Zentaur“ (1909). Foto: Assicurazioni Generali

Anklänge an Max Klinger: „Sterbender Zentaur“ (1909). Foto: Assicurazioni Generali

Zum Artikel

Erstellt:
25.02.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 02sec
zuletzt aktualisiert: 25.02.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!