Zeit für einen Wandel

Leitartikel zum Erbe der Bundeskanzlerin Angela Merkel

Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft waren es vor allem die Medien, die Angela Merkel immer wieder mit Verweis auf ihre Biografie als Wissenschaftlerin erklärten: Dinge von hinten denken, nüchtern abwägen, auf die Fakten verlassen.

24.07.2021

Von Guido Bohsem

Das waren und sind die meisten Sätze, obwohl Merkel nun wirklich den größten Teil ihres Lebens als Politikerin und nicht als Physikerin gearbeitet hat. Interessant ist, dass sich Merkel selbst diese Zuschreibung inzwischen völlig zu eigen gemacht hat. Um sich zu erklären, hebt die ewige Kanzlerin ihre kurze Zeit als Physikerin hervor. Sie versteckt sich gewissermaßen hinter ihrem eigenen Klischee – zuletzt am Donnerstag vor der Bundespressekonferenz.

Wie in jedem Klischee liegt darin ein Stück Wahrheit, und deswegen wird es wie selbstverständlich in den vielen Abschiedsbetrachtungen zum Ende ihrer Karriere verwendet. Allein, es reicht nicht aus, um die Bundeskanzlerin und ihre Wirkung auf die Republik zu erklären. Als Ergänzung hilft es, die ersten Tage im Dezember 2003 zu betrachten. Damals machte sich die CDU unter Merkels Führung auf, die rot-grüne Regierung mit marktliberalen Inhalten herauszufordern. Ausgerechnet Merkel setzte damals auf maximale inhaltliche Konfrontation (viele Fakten sprachen übrigens damals dafür) und nicht auf Annäherung. Sie gewann die Wahl dann denkbar knapp, von den Reformzielen blieb nichts.

Diese Vorsicht hat sich in allen Teilen ihres Regierens bemerkbar gemacht, zuletzt in der Corona-Krise. Niemals würde sie ein Experiment wagen, wie es Premier Boris Johnson gerade in Großbritannien mit der Lockerung der Maßnahmen gestartet hat. Sie würde sich nicht für eine radikale Steuerreform verkämpfen, nicht für einen grundlegenden Umbau des Sozialsystems, nicht für eine umfassende Verwaltungsreform. Nein, sie würde mit Fachleuten sprechen und den kleinsten möglichen Nenner ausloten. Sie würde den großen Konsens der großen Lösung vorziehen.

Merkels Art, ihre politische Herangehensweise, wurde vom Wähler belohnt. Sie prägte das Land und hat es in gewisser Weise auch sediert. Es hat nichts mit den Methoden des Ex-US-Präsidenten Donald Trump zu tun, wenn hierzulande eine lebhafte Wahlkampf-Auseinandersetzung über die Lebenslauf-Passagen der Grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock geführt wird. Es kommt vielen nur so vor, weil Merkel die Wucht der politischen Auseinandersetzung durch ihre Art der Regierungsführung verschwinden hat lassen. Politischer Streit ertönt im Vergleich zu früher weicher und – siehe oben – irgendwie wissenschaftlicher.

Wenn Politik wie ein öffentliches Schauspiel funktioniert, fehlt dem Zuschauer damit die Katharsis, die Befreiung von inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren. Die Wut sucht sich stattdessen ihren Weg ins Netz, wo die Akteure umso härter miteinander umgehen. Auch das gehört zum schweren Erbe Merkels, für tiefgreifende Reformen wie sie nun anstehen, müsste die Politik wieder mutiger und deshalb womöglich auch härter werden.