Das Corona-Puzzle

Leitartikel zu den neuen Pandemie-Beschlüssen

Nach etwa 16 Jahren Regierungszeit hat sich im politischen Betrieb Berlins eine Berufsgruppe gebildet, die man als Kanzlerinnen-Auguren bezeichnen kann.

21.01.2021

Von Guido Bohsem

Sie besteht aus professionellen Beobachtern Angela Merkels, also aus Journalisten, Politikern, Lobbyisten und Beamten. Sie verdienen ihr Geld damit zu wissen, was die Kanzlerin denkt. Zumindest aber können sie im Nachhinein überzeugend darlegen, was Merkel vor einer Entscheidung gedacht haben könnte. Viele versuchen sich als Kanzlerinnen-Auguren, wenigen gelingt es wirklich.

Warum Merkel an diesem Donnerstag vor die Bundespressekonferenz tritt, scheint hingegen nicht besonders schwer zu entschlüsseln. Merkel meidet diese Bühne in der Regel. Einmal im Jahr zur Sommerpause des Parlaments – mehr ist in der Regel nicht drin. Dass sie diese Regel nun bricht, zeigt zumindest eins: Die Kanzlerin will ganz offenkundig die Scherben des siebeneinhalb-stündigen Treffens mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammenfegen.

Vielleicht sind es die Vorboten des Superwahl-Jahres, die den stundenlangen Streit in der Gruppe provozierten. Vielleicht aber haben manche Regierungschefs der Länder aber auch einfach unterschiedliche Auffassungen über den weiteren Weg aus der Corona-Krise. War vor dem Treffen noch von einem super-harten Shutdown die Regel, blieb danach nur ein beherztes „Weiter so“. Der Streit und die Unentschiedenheit werden vor allem durch fehlende Informationen genährt. Der Versuch, klug und präzise gegen Corona vorzugehen, gleicht auch nach einem Jahr in etwa dem Lösen eines Puzzlespiels, bei dem keiner weiß, wie groß es ist und wie die Teile geformt sind.

Zwar ist das Virus selbst mit großem Erfolg erforscht worden, zwar wurden Impfstoffe im Rekordtempo entwickelt – doch eine große gesellschaftliche Studie zur Verbreitung des Virus wurde viel zu spät aufgelegt und ihr Ergebnis steht aus. Helfen könnte, wenn die Regierenden den Deutschen zutrauen würden, sich selbst zu testen. Das gelingt den Bürgern anderer Länder ja offenbar auch, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Die daraus erwachsenden Informationen würden die Erkenntnis über die Verbreitung des Virus jedenfalls schlagartig verbessern.

Statt also einem begründeten Plan zu folgen, müssen die Verantwortlichen raten und sich für das entscheiden, was den vermeintlich geringsten Schaden verursacht. Eine Entscheidung fällt nicht, weil es Erkenntnisse über die Virenlast oder ähnliches gibt, sondern weil sie passender erscheint. Deshalb bleiben die Schulen für die meisten Schüler zu und die Fabriken für die meisten Arbeitnehmer offen.

Auch im vergangenen Jahr waren die Entscheidungen nicht faktenbasiert. Doch das war verzeihlich, weil Corona über das Land kam wie ein Sturm. Inzwischen könnte das anders aussehen, und das fällt auch den Bürgerinnen und Bürgern auf. Geht das so weiter, droht ein Kontrollverlust. Man muss kein Merkel-Augur sein, um festzustellen, dass das die Kanzlerin sehr beunruhigt.

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Erstellt:
21.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 21.01.2021, 06:00 Uhr

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