Koalition

Leitartikel: Aufbruch gegen den Wind

Die frühere Lagerhalle vermittelt Startup-Atmosphäre, die Überschrift verkündet Fortschritt. Doch echte Aufbruchstimmung wollte nicht aufkommen, als SPD, Grüne und FDP am Berliner Westhafen ihre Koalitionspläne vorstellten.

25.11.2021

Von Ellen Hasenkamp

Berlin. Dabei ist es gerade mal zwei Monate her, dass das inzwischen berühmte Selfie vom grün-gelben Überraschungstreffen Neugier weckte auf diese Ampel und tatsächlich einen Hauch von Neu­anfang durchs Land wehen ließ.

Inzwischen bläst dem Dreierbündnis der Wind mit aller Kraft ins Gesicht. Und das liegt an der Corona-Lage. Noch nie hat eine bundesdeutsche Regierung ihr Amt unter derart widrigen Bedingungen angetreten. Die Krise diktierte dem künftigen Kanzler Olaf Scholz buchstäblich seine ersten Sätze, und dass er dabei die fast zwei Jahre alten Kanzlerinnenworte „Die Lage ist ernst“ wählte, zeigt, wie sehr er und sein Bündnis feststecken im alten Schlamassel. Diese Krise droht nun alles zu überschatten, was die Ampel an Leuchtkraft hervorbringen mag. SPD, Grüne und FDP sind in der Defensive, ehe sie überhaupt richtig angefangen haben. Daran sind sie zum Teil nicht selbst schuld, sondern das vermaledeite Virus. Andererseits haben sie sich in den acht Wochen des Übergangs auch nicht besonders überzeugend angestellt. Während die Infektionszahlen explodierten, arbeiteten sie an der Abschaffung der epidemischen Lage und damit an juristischen Feinheiten statt an der praktischen Corona-Front. Und als sie das von ihnen gestaltete Gesetzeswerk im Bundestag vorstellten, murmelte Scholz seine Begründung derart uninspiriert ins Mikrofon, als hoffe er, so auch das Sars-Virus für immer auslöschen zu können. Angesichts der Lage hielt es die amtierende Kanzlerin Merkel sogar für angezeigt, die künftigen Verantwortungsträger nur Stunden vor ihrem großen Auftritt noch einmal ins Corona-Gebet zu nehmen.

Viele der Koalitionspläne verdienen tatsächlich die Ampel-Schlagwörter „Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Die Einwanderungspolitik wird modernisiert, der Mindestlohn kommt, der Kohleausstieg soll vorgezogen werden. Dennoch: Womit sich die Koalitionäre in den kommenden Wochen vor allem befassen werden, dürfte klar sein: Kontaktbeschränkungen statt Klimaschutz, Desinfektion statt Digitalisierung, Intensivbetten statt Investitionen. Wenn die neue Regierung demnächst schwört, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, tut sie dies zu einem Zeitpunkt, da die Zahl der Corona-Toten über 100 000 gestiegen ist.

Und auch, wenn die Pandemie hoffentlich spätestens im Frühjahr ihren Würgegriff um das Land lockert: Der Kampf gegen das Virus jetzt wird genau jene Kraft und jenes Vertrauen kosten, die gerade am Anfang eines Bündnisses so wichtig sind. Denn die Erfahrung lehrt, dass die dicken Brocken sich am besten gleich zu Beginn bewältigen lassen, wenn der Elan groß ist und die nächste Wahl noch fern. Das alles heißt nicht, dass Rot-Grün-Gelb schon gescheitert ist, ehe die Koalition richtig begonnen hat. Es heißt, dass das Bündnis sich doppelt anstrengen muss.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
25.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 25.11.2021, 06:00 Uhr

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