Liest sich schnell, ist aber nachhaltig

Zwischen Speeddating und Slowfashion

Ein „wohnungspolitisches Speeddating“ bot vor zwei Wochen das Tübinger Aktionsbündnis für gemeinschaftliches Wohnen und Leben im Alter an.

22.05.2019

Von Peter Ertle

Vor einer Woche diskutierten in Kirchentellinsfurt 20 Erstwähler bei einem „Speeddating gegen Berührungsängste“ mit Gemeinderäten. Ob alt oder jung – viel Zeit haben wir nicht mehr oder wollen sie nicht mehr investieren. Auch in der Kunsthalle gibt es neuerdings ein Speeddating mit der Kunst. Wer zum Speeddating lädt, ist nicht verschnarcht, verschlossen, umständlich und elitär. Sondern jung, direkt, sportlich und überraschend anders. Jedenfalls beim Speeddating als Kür. Speeddating als Pflicht gibt es schon länger, ohne dass es jemals so hieß, zum Beispiel beim Arzt, vor allem im Pflegebereich. Mehr als ein paar Minuten für den Patienten sind nicht drin.

Im Internet sind die relevanten Videos nur 30 Sekunden lang, weil die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne nicht länger dauert. Man bekommt heute Mails mit dem Betreff „lesen dauert 2 Minuten“. Man weiß nicht, ob es ironisch gemeint ist.

Wir müssen weiter klicken zum nächsten Tier oder Strauch, wir Jäger und Beerensammler. Unsere Vorfahren lagen andererseits auch stundenlang verträumt auf der Lauer oder schauten ins Feuer und erzählten. Vermutlich entschleunigten sie dabei.

Heute gehen die Menschen ins Kloster, um wochenlang zu schweigen, radeln tagelang den Donauradweg entlang, entleeren ihren Darm vollständig, was dauert, oder wandern zu Fuß über die Alpen von München nach Venedig und schwärmen davon, wie sich dabei die Zeitwahrnehmung verändert. Sie essen Slowfood, tragen Slowfashion oder sagen es zumindest, sie achten auf das Nachhaltigkeitslabel. Sie geraten in Euphorie über das schützenswert langsame Wachstum der Bäume. Und begeistern sich für das Vertrauen, das inzwischen in den Rang eines Heiligtums erhoben wurde. Auch das Vertrauen kann nur ganz langsam aufgebaut werden, muss wachsen und ist wahnsinnig sensibel.

An der Börse gilt das Vertrauen schon lange als härteste, wenn auch anfällige Währung. Können wir dem Vertrauen vertrauen? Vielleicht sollten wir es zunächst einmal speeddaten. Der erste Eindruck täuscht selten.

Manche unserer Donauradler, Darmentleerer und Alpenwanderer organisieren, wenn sie wieder arbeiten, Speeddatings mit den Firmenmitarbeitern und ermahnen ihre Angestellten, den Organisationsablauf zu straffen. Es klingt schizophren, ist aber normale Arbeitsteilung. Speeddating und Slowfaszination entspringen beide dem kapitalistisch beschleunigten Optimierungsprozess, sind sportliche Gefolgschaft und Gegensehnsucht, Langsamkeitsrebellion.

Was heute Speeddating heißt, wird morgen anders heißen. Darauf kann man nachhaltig vertrauen. Im Übrigen sind auch diese Zeilen nur das Speeddate mit einem Thema. Lesen dauert zwei Minuten.

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Erstellt:
22.05.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 12sec
zuletzt aktualisiert: 22.05.2019, 01:00 Uhr

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