Uniklinikum Tübingen

Landgericht: Tod eines Dreijährigen nach der Mandeloperation

Ein Dreijähriger starb nach einem Eingriff in der Tübinger HNO-Klinik. Der medizinische Gutachter kritisierte diagnostische Versäumnisse.

15.07.2020

Von Ulla Steuernagel

Symbolbild: Erich Sommer

Symbolbild: Erich Sommer

Der kleine Jonas wurde nur dreieinhalb Jahre alt. Er starb drei Tage nach einer Mandeloperation, die im Juni 2018 am Tübinger Klinikum (UKT) vorgenommen worden war. Am Mittwoch wurde am Tübinger Landgericht die Schadensersatzklage der Eltern gegen die überweisende HNO-Ärztin, das UKT und den operierenden Arzt verhandelt.

Als er zwei Jahre alt war, wunderten sich die Eltern des Jungen darüber, dass ihr im Oktober 2014 geborener Sohn nicht altersgemäß sprechen wollte. Die ärztlichen Untersuchungen ergaben, dass er schlecht hörte. Der Grund dafür waren Flüssigkeitsansammlungen im Mittelohr, ein sogenannter Paukenerguss.

Die damit verbundenen Hörstörungen hatten zu einer Verzögerung in der Sprachentwicklung geführt. Im Januar 2017 wurde der mit seiner Familie in Großbettlingen lebende Junge zunächst in der Tübinger Lorettoklinik operiert. Bei der OP wurde eine Drainage mit Paukenröhren gelegt und eine Adenotomie gemacht. Umgangssprachlich wird letztere auch Polypen-Entfernung genannt, es handelt sich aber um Rachenmandeln. Im Laufe dieser Operation war es zu starken Blutungen gekommen.

Die Operation brachte nur eine vorübergehende Besserung, so berichteten die Eltern, die mit ihren schmerzhaften Erfahrungen bewusst die Öffentlichkeit suchen, in der Verhandlungspause den Pressevertretern. Das Wachstum des Kindes machte den OP-Erfolg bald zunichte, und der kleine Jonas hörte wieder schlecht.

Drei Monate später wurde der Junge dann in die Tübinger HNO-Klinik operiert, es wurde erneut eine Adenotomie mitsamt Trommelfellschnitt und Paukenröhrchen-Einlage vorgenommen. Jonas war diesmal wegen der starken Blutungen während der ersten OP stationär aufgenommen worden. Laut Behandlungsunterlagen hatte die Mutter von Jonas auch im Fragebogen der Klinik die Frage nach einer Gerinnungsanamnese sowohl für den Jungen als auch familiär bejaht.

Trotz dieser Vorgeschichte wurde Jonas ein Jahr später im UKT wieder ambulant operiert. Es kam hier zu einer dritten Adenotomie, einer Paukenröhrchen-Erneuerung und einer beidseitigen Tonsillotomie, also einer operativen Teilentfernung der Gaumenmandeln.

Mandelentzündungen im eigentlichen Sinne hatte der Junge nie, so die Eltern, auch der Kinderarzt hatte bis dahin keine diagnostiziert. Der medizinische Sachverständige bezeichnete vor Gericht die komplette Entfernung von Gaumenmandeln (Tonsillektomie) als ein ohnehin veraltetes Verfahren. International sehe man alle Mandeleingriffe schon längst sehr kritisch. Auch in Deutschland setze sich diese Meinung allmählich durch. Die 2018 publizierte Leitlinie der Fachgesellschaft der HNO-Ärzte empfehle mittlerweile alternative Verfahren. Die in Tübingen durchgeführte Operation sei zwar kein Verstoß gegen den Standard, dennoch wurde der Sachverständige sehr deutlich in seiner Kritik der Behandlungsmethode in diesem speziellen Fall: „Ich kann es nicht nachvollziehen.“ Eine Dilatation, also eine Ausdehnung, der Ohrtrompete im minimalinvasiven Katheterverfahren wäre der bessere Weg gewesen.

Der Beklagtenvertreter des UKT und des Operateurs zeigte sich darüber „basserstaunt“. Alle von ihm befragten HNO-Ärzte betrachteten das Dilatations-Verfahren als noch „wenig etabliert“ – jedenfalls zum fraglichen Zeitpunkt und schon gar bei kleinen Kindern. „Aber wir sprechen von einer Uniklinik“, warf die Klagevertreterin ein.

Prinzipiell hält der Gutachter ambulante Tonsillotomien für riskant, stationäre Eingriffe seien aber der höheren Kosten wegen „politisch nicht gewollt“. Im Fall des kleinen Jonas, der am dritten Tag nach der OP plötzlich starke Nachblutungen hatte und trotz Notarzt-Einsatz und Reanimationsbemühungen in der Klinik starb, kritisierte der Sachverständige aber vor allem anderen als besonderes Versäumnis der behandelnden UKT-Ärzte, dass sie trotz der Warnsignale in der Patientenakte keine präoperative Blutgerinnungsdiagnostik gemacht hatten. Er hielt es für höchst wahrscheinlich, dass Jonas an einer genetisch bedingten Blutgerinnungsstörung, dem Willebrand-Jürgens-Syndrom, litt. Da es sich bei dem Jungen keineswegs um einen Notfall, sondern um einen Wahleingriff gehandelt hatte, hätte man mit dieser Diagnostik nicht operiert.

Der Operateur am UKT hielt dagegen, er habe in der Literatur keinen einzigen Beleg dafür gefunden, dass eine gestörte Blutgerinnung auch eine erhöhte Blutungsneigung bei operativen Eingriffen mit sich bringe. Damit überzeugte er die Zivilkammer jedoch nicht. Sie entließ die HNO-Ärztin, die den Jungen überwiesen hatte, aus der Haftung. „Da würden wir ein haftungsrechtliches Tor aufmachen“, so der vorsitzende Richter.

Im Wissen, dass Geld das Leid der Angehörigen nicht kompensieren kann, schlug sie statt des in der Klage geforderten Schadensersatzes in Höhe von 100.000 Euro einen Vergleich in Höhe von 62.500 Euro vor. Die Entscheidung ist für den 18. September vorgesehen.

Info

Richter der Zivilkammer: Dr. Peter Häcker, Dr. Eva Gundlach-Müller, Christoph Sandberger, Klagevertreterin: Dr. Michaele Bürgle, Beklagtenvertreter: Dr. Helge Hölzer, Dr. Eckart Feifel, Sachverständiger: Prof. Matthias Tisch

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Erstellt:
15.07.2020, 18:06 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 15.07.2020, 18:06 Uhr

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