Verbrechen

LKA zählt rund 500 ungeklärte Fälle

Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg hat einen neuen Aufgabenbereich für „Cold Cases“ eingerichtet. Altfälle sollen dadurch besser bearbeitet und Serien früher erkannt werden.

03.05.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

„Aktenzeichen XY“ beschäftigt sich mit ungeklärten Delikten. Auch im Fall Brigitta J. erhofften sich die Ermittler Anfang 1996 neue Hinweise über die TV-Sendung. Foto: Screenshot: ZDF

„Aktenzeichen XY“ beschäftigt sich mit ungeklärten Delikten. Auch im Fall Brigitta J. erhofften sich die Ermittler Anfang 1996 neue Hinweise über die TV-Sendung. Foto: Screenshot: ZDF

Stuttgart. Eine Frau wird an einem Sommerabend auf offener Straße erstochen. 25 Jahre bleibt der Täter verschwunden – bis die Polizei mittels verbesserter DNA-Technik doch noch einen Treffer landet. Seit einem halben Jahr sitzt der Ex-Topmanager Hartmut M. in Stuttgart auf der Anklagebank, weil er die Künstlerin Brigitta J. 1995 ermordet haben soll. Das Urteil dürfte in den nächsten Wochen fallen. Ein Cold Case, der plötzlich wieder brandaktuell ist.

In den Archiven der baden-württembergischen Polizei schlummern hunderte Fälle wie der von Brigitta J.: Tötungsdelikte, die auf ihre Aufklärung warten. Immer wieder gelingt es der Polizei auch nach Jahrzehnten, einen alten Fall zu lösen. Um die Arbeit und damit womöglich auch die Schlagzahl aber noch zu verbessern, hat das Landeskriminalamt jetzt einen dauerhaften Aufgabenbereich für solche Cold-Case-Fälle eingerichtet. Der Startschuss ist am 1. März gefallen.

Die Rolle von stummen Zeugen

Drei Mitarbeiter hat das LKA für die Aufgabe abgestellt. Ihr Bereich ist am Kriminaltechnischen Institut (KTI) angesiedelt. Aus gutem Grund, wie dessen Leiter Axel Mögelin sagt. Bei einem Cold Case sei der erste „Anfasser“, also der erste Ansatzpunkt, oft der objektive Tatbestand, sprich: das, was am Tatort an Spuren gesichert wurde. „Nach zehn oder 20 Jahren geht manchmal noch was über Zeugen, oft sind es aber vor allem die stummen Zeugen – DNA, Fasern, Pollen –, die auch nach Jahren noch objektiv eine Täterschaft belegen oder wichtige Hinweise können“, erklärt der 47-Jährige. Obendrein kenne man am Institut immer die neuesten kriminaltechnischen Entwicklungen.

Aktuell gehe man grob von rund 500 Cold-Case-Fällen in Baden-Württemberg aus, sagt der KTI-Leiter. Dazu zählen vollendete, vorsätzliche Tötungsdelikte, die nicht oder nur teilweise aufgeklärt wurden, sowie Vermisstenfälle, bei denen ein Tötungsdelikt im Raum steht – und unbekannte Tote. Zudem sollen auch Delikte bearbeitet werden, bei denen es zwar beim Versuch geblieben ist, die aber stark in die Öffentlichkeit ausgestrahlt haben.

Die neue Cold-Case-Einheit versteht sich vor allem als Servicestelle und Partner für die Präsidien im Land, bei denen die reine Ermittlungsarbeit verbleibt. Die LKA-Mitarbeiter vermitteln Experten und zeigen, so die Zielsetzung, mögliche neue Ermittlungsansätze auf, weiten quasi den Blick: Wurden alle relevanten Zeugen vernommen? Welche Asservate sollte man neu untersuchen? Ist die Tatthese von damals aus heutiger Sicht noch logisch? Zugleich verstehe man sich als Dienstleister, sagt Mögelin: „Wir sammeln – ganz banal – gerade alte Abspielgeräte, für den Fall dass sich bei Asservaten zum Beispiel alte VHS-Kassetten oder 3,5-Zoll-Disketten finden“, erklärt der KTI-Leiter.

Die Erfahrungen aus verschiedenen Cold-Case-Ermittlungen im In- und Ausland sollen die Kollegen bündeln und daraus Handlungsanweisungen ableiten. Auch als Folge aus der NSU-Mordserie sollen Anfragen aus anderen Bundesländern oder dem Ausland zentral in Stuttgart bearbeitet werden, damit eine Stelle den Überblick behält und Zusammenhänge schneller erkennen kann.

Barcodes für Beweisstücke

Qualitätssicherung ist ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste. Ohne Scheu müssten Fehlerquellen und Optimierungen identifiziert werden, um die zukünftige Arbeit beziehungsweise die Aus- und Weiterbildung auf ein bestmögliches Fundament zu stellen, sagt Mögelin. Bisher kämpften Altfall-Ermittler zum Beispiel immer wieder damit, dass Akten unvollständig waren. „Da müssen wir uns fragen, wie die Akten aufgebaut sein müssen, damit kein Detail verloren geht.“ Für ein anderes Problem – verschwundene Asservate – soll es indes schon bald eine Lösung geben: Künftig sollen alle Beweisstücke mit Barcodes versehen werden.

Mit dem neuen Arbeitsbereich hebe man das Cold-Case-Management im Land auf ein neues Level, ist sich Mögelin sicher. „Es ist nicht so, dass wir bisher nichts getan hätten. Aber jetzt gehen wir das Ganze strukturierter an.“ Und das sei wichtig: „Ungeklärte Mordfälle sind für die Angehörigen eine fortdauernde Belastung. Ihnen fühlen wir uns besonders verpflichtet.“

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Erstellt:
03.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 55sec
zuletzt aktualisiert: 03.05.2021, 06:00 Uhr

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