Documenta

Kunstbühne und Kampfplatz

Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmet der Geschichte der Kunstschau eine Ausstellung. Sie zeigt auch die Verstrickung eines Nazis in das Konzept.

18.06.2021

Von Sigrid Hoff

Sehen, was andere gesehen haben: aus der Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Foto: Jürgen Blume/epd

Sehen, was andere gesehen haben: aus der Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Foto: Jürgen Blume/epd

Berlin (epd). Die Documenta in Kassel gilt bis heute als das größte Kunstereignis der Bundesrepublik. Seit 1955 lockt sie zunächst alle vier, später alle fünf Jahre Künstler aus aller Welt nach Hessen, um die Gegenwartskunst zu feiern. Erstmals geht nun eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin der Geschichte dieser Kunstschau von 1955 bis 1997 nach.

Unter dem Titel „documenta. Politik und Kunst“ beleuchtet die Ausstellung seit diesem Freitag, wie die junge Bundesrepublik die Kunst benutzt hat, um sich von der NS-Zeit abzugrenzen und als demokratischer, am Westen orientierter Staat zu präsentieren. Dabei wird erkennbar, dass die Documenta von Beginn an als Mittel der politischen Selbstdarstellung diente.

„Mit der Geschichte der Documenta lässt sich eine ästhetische Geschichte der Bundesrepublik schreiben“, sagte DHM-Präsident Raphael Groß. Er verfolgt seit seinem Amtsantritt das Projekt, das Verhältnis von Kunst und Politik am Beispiel der Documenta zu untersuchen.

Unter den rund 390 Exponaten sind zahlreiche Originale, die einst in Kassel Aufsehen erregt haben. Briefe, Fotos und weitere Dokumente beleuchten, wie sich die Documenta immer wieder neu erfand und mit der Kunst Geschichte schrieb.

Der wohl spannendste Teil der Ausstellung betrifft die ersten drei Ausgaben der Documenta. Gleich im ersten Raum trifft man auf einen Abguss von Wilhelm Lehmbrucks Skulptur der „Großen Knienden“. Fotos von 1955 zeigen das Kunstwerk auf der ersten Documenta in der Rotunde des Fridericianums, des zentralen Ausstellungsgebäudes in Kassel.

Anschluss an Kunst vor 1933

1937 war die Skulptur auf der NS-Propaganda-Schau „Entartete Kunst“ in München gezeigt worden. In Kassel dient sie knapp 20 Jahre später als Beleg dafür, dass die junge Bundesrepublik die NS-Zeit abgeschüttelt hat und mit der Documenta 1 den Anschluss an die Avantgarde vor 1933 sucht.

Einer der führenden Köpfe der Documenta war der Kunsthistoriker und spätere Direktor der Neuen Nationalgalerie in West-Berlin, Werner Haftmann. Dass er NSDAP-Mitglied und SA-Mann war, ist bekannt. Erstmals präsentiert die Ausstellung schockierende Details seiner braunen Vergangenheit, die der Kölner Historiker Carlo Gentile unlängst enthüllt hat.

Aus der Documenta von 1972: Ludwig Erhard als Gartenzwerg der Firma Heissner. Foto: Jürgen Blume/epd

Aus der Documenta von 1972: Ludwig Erhard als Gartenzwerg der Firma Heissner. Foto: Jürgen Blume/epd

So war Haftmann nach der deutschen Besetzung Italiens von 1944 an an der Folterung und Ermordung italienischer Partisanen beteiligt. Ein italienischer Zeitungsausschnitt belegt, dass der Kunsthistoriker 1946 in Italien als Kriegsverbrecher gesucht wurde.

Die Kuratorin Julia Voss zeigt am Beispiel des jüdischen Künstlers Rudolf Levy, wie die Documenta zwar die in der NS-Zeit verfemte Kunst der Moderne rehabilitierte, jedoch den Holocaust verschwieg. Wie weitere verfolgte Künstler, darunter die Bildhauerin Emy Roeder und der Maler Hans Purrmann, lebte Levy seit 1940 in Florenz im Exil. Dort ist Haftmann ihm vermutlich auch begegnet.

Zu den berührendsten Dokumenten zählt ein Brief der Bildhauerin Emy Roeder, die 1946 vom Schicksal Levys berichtet. Er war 1943 verhaftet worden und starb vermutlich 1944 auf dem Transport nach Auschwitz.

„Opfer sind die Bilder“

Haftmann, das zeigt ein Brief daneben, hatte sich ebenfalls 1946 nach Levy erkundigt. 1955 findet sich der Name des Künstlers auf der Vorschlagsliste für die erste Documenta, wird dann jedoch gestrichen. Für Haftmann zählte nur das Bild der Nazis als Kunstbanausen; die Verbrechen, auch seine eigenen, klammerte er aus. DHM-Präsident Gross: „Für ihn waren die Bilder die Opfer.“

Der Januskopf der ersten Documenta-Ausgaben zeigt sich auch im Programm, wie weitere Kapitel der DHM-Schau belegen: Was zählte, war die scheinbar unpolitische westliche Kunst der Abstraktion und die konsequente Ablehnung des sozialistischen Realismus.

Die Documenta in Kassel, 30 Kilometer von der „Zonengrenze“ entfernt, wurde zum Instrument der Kunstpolitik im Kalten Krieg. Sie wurde ein Aushängeschild der Freiheit und eine Bühne im Ost-West-Konflikt. „Die Documenta entwarf ein Bild der modernen Kunst, das sowohl antifaschistisch wie anti-totalitär war“, sagt der Kurator Lars Bang Larsen. „Sie setzte damit die braune Gewaltherrschaft mit dem Kommunismus gleich.“

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Erstellt:
18.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 57sec
zuletzt aktualisiert: 18.06.2021, 06:00 Uhr

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