Weltkulturerbe

Kunst und Alltag feiern Hochzeit

Die Mathildenhöhe in Darmstadt ist ein bestaunenswertes Jugendstil-Ensemble und könnte bald auf der Unesco-Liste stehen. Im Juli fällt die Entscheidung.

19.06.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Die Mathildenhöhe in Darmstadt mit dem Hochzeitsturm. Foto: Ingo Marburg

Die Mathildenhöhe in Darmstadt mit dem Hochzeitsturm. Foto: Ingo Marburg

Darmstadt. In demokratischen Zeiten läuft das anders. Man stelle sich nur mal vor: Eine Landeshauptstadt schenkt ihrem Ministerpräsidenten einen fast 50 Meter hohen Turm in Erinnerung an dessen Hochzeit! In Darmstadt aber steht ein solcher auf der Mathildenhöhe, 1908 von den Bürgern dem Landesfürsten dediziert und markant gebaut mit fünf Bögen auf dem Dach, wie die fünf Finger einer Hand. Dieser „Hochzeitsturm“ aus dunkelrotem Klinkerstein des Gesamtkunstwerkers Joseph Maria Olbrich erinnert an die Vermählung des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein mit Prinzessin Eleonore zu Solms-Hohensolms-Lich im Jahre 1905.

Wobei das Geld dann doch nachhaltig gut angelegt ist. Der Hochzeitsturm ist nicht nur bis heute die „Stadtkrone“ Darmstadts, sondern sehr bürgerlich in Betrieb: als Aussichtsturm mit später eingebautem Lift und tollem Blick aufs Rhein-Main-Gebiet. Und hier werden standesamtliche Trauungen vollzogen im ausgemalten Hochzeitszimmer auf Ebene 5, auf Wunsch mit Brautbecher-Zeremonie und „Harmonieprobe“. Schon unten in der Eingangshalle ist einladend Friedrich Wilhelm Kleukens „Kuss“-Mosaik zu bewundern.

Demnächst könnten die frisch Getrauten sogar damit prahlen, in einem Weltkulturerbe sich das Ja-Wort gegeben zu haben – was immer das auch für Folgen haben sollte für den Bestand der Ehe. Denn der Hochzeitsturm gehört zum Jugendstil-Juwel „Künstlerkolonie Mathildenhöhe“, das seit 2014 auf der deutschen Vorschlagsliste steht. Das Verfahren ist abgeschlossen, die Bundesrepublik hat die Unterlagen 2019 bei der Unesco abgegeben. Jetzt, von Mitte Juli an, soll endlich über den Antrag befunden werden, auf der Online-Tagung des Welterbe-Komitees.

Für die „ganze Menschheit“

Schon 46 Natur- und Kulturerbestätten finden sich in Deutschland: von den Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb bis zum Aachener Dom, vom Kloster Maulbronn bis zur Berliner Museumsinsel. Und worin besteht nun die „außerordentliche Bedeutung“ der Mathildenhöhe, was macht sie für die „ganze Menschheit“ so erhaltenswert? Zitiert aus dem Vorwort des Oberbürgermeisters Jochen Partsch für das Nominierungsgutachten: „Die Künstlerkolonie Mathildenhöhe im Osten der Stadt Darmstadt gilt mit ihren Häusern, Gartenanlagen und Kunstwerken als bedeutendes Ensemble künstlerischen experimentellen Schaffens im Geist der internationalen Reformbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Diese Geschichte führt ins Deutsche Kaiserreich, das die Preußen beherrschten, dessen Rechtsform aber eine bundesstaatliche Monarchie war. Dazu gehörten winzige Operetten-Regentschaften wie das Fürstentum Reuß ältere Linie, aber die Nummer sechs unter 25 Ländern und Freien Hansestädten war das von Darmstadt aus regierte Großherzogtum Hessen mit knapp 7700 Quadratkilometern und rund 1,2 Millionen Untertanen. Zu sagen hatten die Fürsten politisch nicht mehr viel, sie mussten auf anderen Gebieten Souveränität zeigen. So feierte die Kultur bis zum Ersten Weltkrieg eine große Epoche – auch deshalb gibt es heute in Deutschland so weltweit einmalig viele Opernhäuser.

In Darmstadt nun sagte Großherzog Ernst Ludwig: „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst!“ – und gründete 1899 eine Künstlerkolonie. Zwischen 1901 und 1914 lebten und arbeiteten dort 23 Architekten, Designer und Künstler; aus halb Europa wurden sie angelockt und erhielten ein festes Einkommen. Als Gegenleistung sollten sie Entwürfe „Made in Darmstadt“ für regionale und internationale Firmen anfertigen, wie es die aktuelle Ausstellung im Museum Künstlerkolonie (im Ernst-Ludwig-Haus) formuliert und mit vielen Exponaten zeigt.

Der kunstsinnige Großherzog also war als Landesvater auch ums wirtschaftliche Wohl besorgt. Der Enkel von Queen Victoria kannte gut die englische Arts-and-Crafts-Bewegung: Die war gegen den Historismus und minderwertige Industrieprodukte gerichtet, besann sich auf die Qualitäten des Handwerks. Um 1900 hieß das auch Art Nouveau, Modern Style und eben populär Jugendstil, es war ein Aufbruch in die Moderne, ganzheitlich ausgeführt, das fing beim Hausbau an und endete bei der Türklinke, der Schreibtischleuchte und dem Silber-Besteck. Ein neues ästhetisches Leitbild, verbunden mit einer kunstgewerblichen Industrie – das war in Darmstadt die Idee.

Der Zar stiftete eine Kapelle

Aus Wien kam als künstlerischer Leiter der Architekt Joseph Maria Olbrich, auch Peter Behrens, der große Gestalter, wurde verpflichtet. Dann entstanden geradezu „Raumkunstwerke“ für vier ganzheitliche Baukunstausstellungen von 1901 bis 1914: Künstlerhäuser, Villen, ein zentrales Ateliergebäude, zuletzt auch Mietwohnungen. Und die wunderlich bunte russisch-orthodoxe Kapelle mit ihren goldenen Turmhauben, das zweite berühmte Fotomotiv neben dem Hochzeitsturm? Nein, natürlich kein Jugendstil, sie war schon da: 1897 von Zar Nikolaus II. gestiftet, dem Schwager von Ernst Ludwig. Man war europäisch verwandt.

Nicht alles hat sich erhalten: Nach dem Ersten Weltkrieg verkam vieles, etwa die Gartenanlage vor dem Ernst-Ludwig-Haus, dem „Tempel“ der Künstler. Eine Bombennacht 1944 riss Lücken, dann war nach dem Zweiten Weltkrieg der Jugendstil absolut unzeitgemäß, gerade in Darmstadt, einem Zentrum etwa der avancierten Neuen Musik.

Aber seit Mitte der 1970er Jahre wird saniert – und derzeit ist das Gebäude der Hessen-Landesausstellung von 1908 von Bauzäunen umgeben. Doch die Mathildenhöhe ist nicht nur ein Hochzeits-Hotspot, sondern ein herrliches Ausflugziel: mit Museum, Platanenhain, Jugendstilkunst.

Das Mosaik „Der Kuss“ im Hochzeitsturm. Foto: Jürgen Kanold

Das Mosaik „Der Kuss“ im Hochzeitsturm. Foto: Jürgen Kanold

Tempel der Kunst: Das Ernst-Ludwig-Haus entstand 1901 für die Ausstellung der Künstlerkolonie und beherbergt heute ein Museum über die Mathildenhöhe. Foto: Jürgen Kanold

Tempel der Kunst: Das Ernst-Ludwig-Haus entstand 1901 für die Ausstellung der Künstlerkolonie und beherbergt heute ein Museum über die Mathildenhöhe. Foto: Jürgen Kanold

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Erstellt:
19.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 28sec
zuletzt aktualisiert: 19.06.2021, 06:00 Uhr

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