Sexualisierte Gewalt · Wenn ein „Nein“ nicht ausreicht

Kriminaloberrätin Martina Kaplan für mehr Präventionsarbeit, Streetwork und rasche Sanktionen

Die Leiterin des Referats Prävention beim Reutlinger Polizeipräsidium sprach mit dem TAGBLATT über sexuelle Übergriffe im privaten und im öffentlichen Raum.

26.10.2017

Von Volker Rekittke

Ist Tübingen für Frauen unsicher geworden? OB Boris Palmer wurde unlängst in der „Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten zitiert, dass inzwischen „die Hälfte der Tatverdächtigen bei Sexualstraftaten“ Flüchtlinge seien. „Unsere Zahlen geben das nicht her“, sagt Kriminaloberrätin Martina Kaplan – allerdings kennt sie weder Palmers Quellen noch den Zeitraum, auf den der Tübinger OB sich bezieht. „Laut Polizeistatistik ist Tübingen eine sichere Stadt“, sagt die Präventionsbeauftragte beim Polizeipräsidium Reutlingen. Auch der Alte Botanische Garten (Bota), wo erst vor einigen Wochen nachts eine Frau vergewaltigt wurde, ist laut Kaplan „bei Sexualdelikten bislang kein Kriminalitätsschwerpunkt“.

„Angsträume sind nicht immer Gefahrenräume“, sagt Kaplan – die zugleich gut verstehen kann, dass Frauen nachts nicht gern allein durch Bota oder Anlagenpark gehen, weil sie sich dort unwohl oder schlicht nicht sicher fühlen.

Kaplan rät, bei der Diskussion um männliche Flüchtlinge und sexuelle Übergriffe einen klaren Kopf zu behalten und nicht in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen: „Ich sage ja auch nicht: Liebe Frauen, nehmt euch bloß keinen Mann mit nach Hause – da habt ihr das größte Risiko, Opfer eines Sexualdelikts zu werden.“ Schließlich würden 80 bis 90 Prozent aller Sexualdelikte im persönlichen Umfeld geschehen: in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, in Vereinen genauso wie in Kirchengemeinden. „Vergewaltiger sitzen selten hinter einer Hecke“, so Kaplan.

Doch es sei auch nicht in Ordnung, einfach zu bestreiten, dass auch männliche Flüchtlinge Frauen aggressiv anmachen oder gar Vergewaltiger sein können: „Es ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Kaplan. Manche der jungen Männer, vor allem jene aus stark patriarchal geprägten Kulturen, die teilweise vielleicht selbst Gewalterfahrungen hatten, würden selbst das deutlich ausgesprochene „Nein“ einer Frau nicht akzeptieren, empfänden es möglicherweise sogar als Affront.

Noch vor 20, 30 Jahren hätten auch in Deutschland viele Männer das „Nein“ einer Frau nicht akzeptiert, daran erinnert die Kriminaloberrätin. Damals riet die Polizei noch, dass Frauen sich bei einer Vergewaltigung möglichst nicht wehren sollen. Und Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 unter Strafe gestellt. Mittlerweile ist auch die sexuelle Belästigung eine Straftat. „Manches ist heute anders“, sagt Kaplan, die von 1994 bis 1996 bei der Kripo Tübingen mit Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder, später auch mit dem Bereich Rauschgiftkriminalität zu tun hatte.

Doch wie umgehen mit jener Minderheit von meist jungen männlichen Geflüchteten, die sich nicht an die Regeln halten? Die mit Drogen dealen, Frauen sexuell anmachen? „Unsere Justiz ist gut beraten, hier rasch konsequente Sanktionen auszusprechen“, sagt Kaplan. Doch weil Strafrecht nicht die Antwort auf alle Fragen ist und nicht hinter jedem Baum stets ein Polizist stehen kann, findet Kaplan auch Sozialarbeit hilfreich. Streetworker etwa, die jene Orte aufsuchen, wo auffällige Gruppen sich regelmäßig aufhalten. Und in den Sprachkursen für Flüchtlinge sollten die in Deutschland geltenden Spielregeln, Gesetze, Werte und auch Strafen deutlich thematisiert werden. Didaktisches Material dafür gebe es bereits.

Es passiert schon einiges, so Kaplan: Im neuen „Arbeitskreis Sicheres Nachtleben“ reden Vertreter von Kommune und Polizei, Gastronomen und Clubbesitzer darüber, wie genauer hingeschaut werden kann – und welche Reaktionsmöglichkeiten es bei sexueller Anmache gibt. Auch dass die städtischen Mittel für Präventionsarbeit mit Mädchen und Jugendlichen im Tübinger Haushalt 2018 deutlich aufgestockt werden sollen, findet die Polizistin gut.

Das Thema gehört für sie an die Schulen. Damit vor allem junge Menschen sich mit dem Thema „Sexualisierte Gewalt“ auseinandersetzen. Damit junge Frauen lernen, das ist zugleich Kaplans wichtigster Präventionstipp, „sich mental auf solche Situationen vorzubereiten: Was kann ich tun, wenn’s passiert?“

Lautes Schreien kann geübt werden

Was tun bei sexuellen Übergriffen? Wenn es bereits passiert ist? Zuallererst Hilfe holen, rät Martina Kaplan vom Polizeipräsidium Reutlingen – und zwar ganz gleich, ob bei Polizei oder Beratungsstelle. Dann: sich Notizen machen, Beweise sichern (in die Frauenklinik gehen) – und Anzeige erstatten. „Es ist wichtig, aus der passiven Opferrolle rauszukommen“, sagt Kaplan – und den Täter zu stoppen, damit der nicht weitermachen kann.

Wenn Frauen abends oder nachts unterwegs sind, macht es laut Kaplan Sinn, sich vorher zu überlegen: Gibt es „Rettungsinseln“, etwa ein Club oder eine Kneipe, wo ich mich hinflüchten kann? Fühl’ ich mich sicherer, wenn ich auf dem Heimweg mit einer Freundin telefoniere? Oder wenn ich das Handy in der Hand halte, um im Ernstfall schnellstmöglich den Notruf zu wählen? Sehr wichtig sei auf jeden Fall, sich vorher klarzumachen: „Ich werde auf jeden Fall laut schreien!“ Und das kann geübt werden. Etwa bei einem Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstraining, wie es TIMA am 11./12. November für Mädchen und junge Frauen ab 14 anbietet (Mail: tima-sv@gmx.de).