Reutlingen

Kreativ im Herz der Kommune

Im „Wechselnden Wilhelm“ in der Reutlinger Wilhelmstraße gibt es Kunstwerke und Designprodukte, Musik und Lesungen, Ausstellungen und Mitmach-Aktionen. Es ist weit mehr als ein gewöhnlicher Laden, sagen die Betreiber. Das integrative Projekt soll günstige Präsentationsmöglichkeiten für Kreative schaffen und zur Belebung der Innenstadt beitragen.

13.10.2022

Von Matthias Reichert

Carsten Hutt und Karolina Altenburger. Bild: Horst Haas

Carsten Hutt und Karolina Altenburger. Bild: Horst Haas

Die Löwenskulptur, die durch ein Schaufenster die Passanten anlacht, hat die ukrainische Künstlerin Alisa Aleksandrova gestaltet. Ein Kunstwerk mit Vorgeschichte – wie so vieles im „Wechselnden Wilhelm“. Geschäftsführerin Karolina Altenburger und ihre vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erzählen auf Wunsch gerne, wie die einzelnen Designstücke und Kunstwerke entstanden sind. „Wenn Sie bei uns ein Produkt kaufen, kaufen Sie die ganze Geschichte dazu“, sagt die studierte Pädagogin Altenburger, die in Nürtingen lebt. Im „Wechselnden Wilhelm“ können seit gut einem Jahr Künstlerinnen und Künstler ausstellen, Designer und weitere Kreative ihre Produkte verkaufen. Außerdem ist in der ehemaligen „Löwen-Apotheke“ gegenüber der Reutlinger Marienkirche Raum für Veranstaltungen wie Lesungen, Workshops, Bastel- und Nähkurse für Kinder.

Das ursprüngliche Anliegen war, wie Start-ups und Kunstschaffende ihre Erzeugnisse im Stadtzentrum präsentieren können, die sich dort ansonsten wegen der hohen Mieten schwertun würden. Zugleich soll der „Wechselnde Wilhelm“ die Innenstadt beleben. Altenburger und Carsten Hutt fungieren inzwischen als Gesellschafter des Projekts. Der promovierte Politologe Hutt aus Freiburg organisiert seit sechs Jahren sogenannte „Solution Labs“. Das hat Hutt ursprünglich als Hobby angefangen, inzwischen veranstaltet er solche „Labs“ international an Hochschulen in unterschiedlichen Studiengängen. Dort werden Zukunftsfragen von Kommunen und Firmen beackert. Innovationsmanager Hutt hat unter anderem auch das Konzept für den „Innoport“ auf dem früheren Reutlinger Betz-Areal entwickelt.

Aus einem „Solution Lab“

Die Idee zum „Wechselnden Wilhelm“ ist auch aus einem solchen „Solution Lab“ entstanden. Die Stadt hat das Projekt initiiert, es ist gemeinsam mit Studierenden mehrerer Hochschulen ausgearbeitet worden. Die Stadt übernimmt die ersten Jahre die Miete, von 2023 an fließen für zweieinhalb Jahre Anschub-Fördermittel aus einem Bundesprogramm für zukunftsfähige Innenstädte und Zentren des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumordnung. Doch mittelfristig soll sich das Projekt selbst tragen. Im Juli 2021 haben Hutt und Altenburger eine Träger-Gesellschaft gegründet. Über diese „Werkstatt für Integration und soziale Innovation“ bieten sie nun auch „Solution Labs“ zur Weiterentwicklung von Innenstädten an – und wollen das Ladenprojekt damit langfristig finanzieren.

Geschäftsführerin Altenburger zeigt weitere Produkte mit Hintergrund im „Wechselnden Wilhelm“: etwa einen kleinen Roboter, den der Karlsruher Ingenieur Tino Werner bereits im „Innoport“ vorgestellt hat. „Entweder er verfolgt einen, oder er meidet einen“, beschreibt Hutt das Spielzeug. Seine Kinder seien ganz begeistert davon. Weitere Kontakte sind beispielsweise über einen Workshop Altenburgers für Geflüchtete in Deizisau entstanden, den sie als Projektleiterin für diese Gemeinde initiiert hat. Teils zeigen Kunstschaffende eigene Ausstellungen im „Wechselnden Wilhelm“, einige haben schon international ausgestellt. Und manche werden im Vorbeiflanieren auf die Präsentationsmöglichkeit aufmerksam.

Designer bis aus Stuttgart fragen ebenfalls, ob sie ihre Produkte dort anbieten können. Ein Reutlinger Handwerker baut bei Bedarf Möbel, eine Näherin stickt Monogramme in Taschen und Beutel, man kann selbst Keramikschalen glacieren. Und die Nutzenden vernetzen sich zunehmend. Lebenshilfe, Diakonie Württemberg und die Inklusions-GmbH Habila sind mit im Boot. Doch die Räume sind nicht nur für Menschen mit Handicaps gedacht. „Die Idee ist, dass sich alle auf Augenhöhe begegnen“, sagt Altenburger. Die übergeordneten Themen der jeweiligen Präsentationen wechseln alle drei Monate und werden vom Team gemeinsam festgelegt, bei dem auch ein Praktikant und vier Ehrenamtliche mithelfen. Passanten können ebenfalls Themen-Vorschläge machen. Derzeit geht es um Fernweh. Im Laden gibt es auch einen Kunstatelierbereich. Kinder, die daheim kein Klavier haben, können das zudem dort üben und freitags auch Stunden nehmen, was eine Kooperation mit der Reutlinger Musikschule und einer Klavierlehrerin ermöglicht.

Sozialer Kristallisationspunkt

In der Wilhelmstraße hat es wegen den Corona-Einschränkungen freilich gleich mehrere Eröffnungs-Anläufe gebraucht. Und zeitweise störe einiger Lärm von zwei Baustellen in der Nachbarschaft. Doch abgesehen davon seien die Lage und die Besucherfrequenz gut. Hutt spricht von einem sozialen Kristallisationspunkt. Der „Wechselnde Wilhelm“ sei bei weitem nicht nur ein Laden, sondern ein Raum, in dem man sich ausleben und kreativ sein könne, erläutert Altenburger. Genau das mache Innenstädte aus: „Dass die Leute zufällig reinkommen“, sagt Hutt. So entstünden Gespräche und Kooperationen: „Das ist das, was Innenstädte brauchen.“

Gemeinsam mit der Hochschule Reutlingen und der Stadt ist ein sogenannter „Innenstadt-Hub“ zur Belebung des Zentrums und mit Blick auf die geplante Biosphärenstadt in Vorbereitung – „wenn wir eine geeignete Fläche finden“, so Hutt. Auch andere Städte interessieren sich inzwischen für das Reutlinger Ladenprojekt. Kürzlich haben Altenburger und Hutt es sogar im polnischen Kostschin an der Oder vorgestellt. Das Modell werde stetig weiterentwickelt, in enger Zusammenarbeit mit Hochschulen und dem genannten Bundesinstitut – mit Blick auf die großen Umbrüche in den Innenstädten. „Wir sammeln die Erfahrungen im ‚Wechselnden Wilhelm‘ und bringen sie in andere Städte“, so Altenburger – in einem partizipativen Prozess mit Stadt und Bürgern.

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Erstellt:
13.10.2022, 13:28 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 26sec
zuletzt aktualisiert: 13.10.2022, 13:28 Uhr

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